Mit dem Mercedes EQS schließt der deutsche Autokonzern zum Elektro-Vorreiter Tesla auf. Die Limousine punktet mit Luxus und hoher Reichweite. Schwächen offenbart die Testfahrt trotzdem.
Der Hoodie bleibt heute im Schrank. Stattdessen trage ich ein Hemd und einen Pullover mit V-Ausschnitt: Wenn ich schon mit dem reifen Alter eines typischen Mercedes-Fahrers nicht mithalten kann, will ich wenigstens stilecht daherkommen. Wahrscheinlich würden es aber auch Lumpen tun. Sobald das Auto nämlich irgendwo steht, interessiert sich sowieso niemand mehr für den Fahrer.
Das Objekt der Begierde ist ein Mercedes EQS: fünf Meter lang, elektrisch angetrieben, Kostenpunkt: 165.000 Euro. Optische Spielereien sind inklusive: Sobald man den EQS im Dunkeln abstellt, wird ein Mercedes-Stern auf den Boden projiziert. Kommt man zurück, wirft der Projektor eine digitale Sternschnuppe auf die Straße. Ansonsten sieht der EQS wie eine schlichte S-Klasse aus – man will die traditionsbewusste Kundschaft ja nicht überfordern.
Wie die meisten deutschen Autokonzerne hat Mercedes den Wandel zur Elektromobilität lange verschlafen. Doch nun rollt mit dem EQS endlich ein Stromer auf die Straße, der Tesla Konkurrenz machen will. Mit Erfolg? Das soll ein 14-tägiger Test zeigen.
Motorhaube lässt sich nicht öffnen
Schon beim Einsteigen wird klar: Hier regiert der Luxus. Als Erstes fallen die Kopfkissen auf, die sich an den Kopfstützen befinden. Dann der Blick aufs Armaturenbrett. Ein gigantischer Bildschirm, genannt Hyperscreen, zieht sich über die komplette Front. Genauer gesagt, handelt es sich um drei einzelne Bildschirme: einer über dem Lenkrad, einer in der Mitte, einer für den Beifahrer. Dieses Spektakel kostet 8.568 Euro extra, was bei der Zielgruppe aber vermutlich nicht sonderlich ins Gewicht fällt.
Die Frage ist eher: Braucht man das? Zweifellos wirkt die Glasfläche schick und modern, wie eine Steuerkonsole im Raumschiff Enterprise. Vor allem das Navi lässt keine Wünsche offen. Die Karte ist so groß, als schlage man einen Stadtplan auf – in diesem Fall mit animierten Flüssen. „Lassen Sie sich nicht ablenken“, warnt das Display und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Der Drang, auf dem Hyperscreen zu lesen, zu zoomen oder Podcasts zu durchstöbern, ist nämlich erschreckend groß. Eigentlich kann man den Bildschirm nur im Stehen so richtig genießen, wofür sich der hohe Aufpreis nicht lohnt.
Nachdem die Tür zu ist, offenbart sich eine weitere Stärke des EQS: Alles so schön leise! Über Schlaglöcher und Unebenheiten gleitet die Limousine problemlos hinweg. Wer vollends im Luxus schwelgen will, aktiviert die – ebenfalls aufpreispflichtigen – Massagesitze. Aber bitte nicht einschlafen!
Das Platzangebot erweist sich erwartungsgemäß als üppig. Selbst 1,93-Meter-Männer wie der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann sitzen im EQS bequem. In seiner alten Benziner-S-Klasse hatte sich der Grünen-Politiker eigenen Angaben zufolge „wie eine Sardine in der Büchse“ gefühlt. Seit Sommer 2022 lässt er sich nun im Elektro-EQS kutschieren – beim Pressetermin schwärmte er davon, dass er nun „richtig Platz“ habe.
Gleiches gilt für den Kofferraum: Dank eines Volumens von mehr als 600 Liter können Mercedes-Fahrer gleich mehrere Geldkoffer bequem in die Schweiz transportieren. Nur vorne gibt sich der Stromer zugeknöpft. Die Motorhaube lässt sich nur vom Fachpersonal in der Werkstatt öffnen; Scheibenwisch-Wasser muss über eine seitliche Klappe nachgefüllt werden.
Aber wie weit kommt er denn nun mit all dieser Technik? Laut WLTP-Richtwert sollen knapp 700 Kilometer drin sein – ein Superlativ, wie so vieles an diesem Auto. Aber stimmt es auch? Unsere Testfahrt quer durch Deutschland zeigt, dass die Angabe – wie bei fast allen Herstellern – übertrieben ist. Bei einer moderaten Geschwindigkeit von 120 bis 130 km/h sind aber durchaus 600 Kilometer möglich. Das ist immer noch ein Spitzenwert, den – wenn man ehrlich ist – kaum jemand braucht. Welcher Mensch kann und will 600 Kilometer durchfahren, ohne eine einzige Pause einzulegen?
Dafür, dass die elektrische S-Klasse über 2,6 Tonnen wiegt, hält sich der Stromverbrauch mit 21 kWh/100 Kilometer noch in Grenzen. Wir wollen nicht in Klischees verfallen, aber der gemeine Mercedes-Fahrer drückt das Strompedal womöglich etwas fester durch als ich und dürfte dementsprechend mehr verbrauchen. Als ich 120 km/h fahre, korrigiert das Navi die Ankunftszeit fortwährend nach hinten – obwohl es nirgendwo einen Stau gibt. Sogar das Navi geht also davon aus, dass Mercedes-Fahrende eher einen heißen Reifen fahren.
Vorbildlich gestaltet sich die Routenplanung: Bei längeren Fahrten plant der EQS automatisch Ladepausen ein und wählt dabei Strom-Tankstellen aus, die möglichst schnell laden können. Zusätzlich werden Schnellladestationen auch auf der Landkarte angezeigt. Will man also doch auf einem anderen Parkplatz halten, sieht man sofort, ob sich dort eine Stromquelle befindet. Schön wäre noch eine dauerhafte Anzeige, die den Akkustand in Prozent darstellt. Doch trotz aller Bildschirme fehlt diese Information – schade.
In 30 Minuten bis 80 Prozent laden
Sobald eine planmäßige Abfahrt ansteht, blendet der EQS ein Live-Kamerabild („Augmented Reality“) im Navi ein. Darin erscheint ein Pfeil, auf welcher Fahrspur man fahren soll – in der Theorie eine tolle Sache, in der Praxis aber eher verwirrend als hilfreich. Die Augen huschen zwischen Frontscheibe, Landkarte und Kamerabild hin und her. Im Regen und bei Dunkelheit taugt das Feature überhaupt nicht. Wenn selbst Digital Natives mit solchen Spielereien überfordert sind, wie muss sich dann erst ein 70-Jähriger fühlen?!
Apropos Regen: Als es zu schütten beginnt, erweisen sich die Scheibenwischer als erstaunlich klein, ja popelig. Auch der Regensensor funktioniert nur mittelmäßig. Zu allem Überfluss befindet sich der Scheibenwisch-Knopf auch noch im Blink-Hebel integriert. Statt zu wischen, betätige ich auf der Autobahn versehentlich die Lichthupe – und ernte böse Blicke. Wieder mal ein drängelnder Mercedes-Fahrer, denken die anderen.
Wo wir gerade beim Lenkrad sind: Berührungsempfindliche Tastfelder ermöglichen einen schnellen Zugriff, zum Beispiel auf die Lautstärke oder die Assistenzsysteme. Ärgerlich nur, dass man die Tasten nicht fühlen kann. Weil es sich um glatte Flächen handelt, muss man während der Fahrt aufs Lenkrad schauen – ein Fehler, den schon VW mit seinen ID-Modellen begangen hat. Während ein solcher Fauxpas aber im Mittelklassefeld noch zu verschmerzen ist, sollte so etwas im Luxussegment nicht passieren. Zumal Mercedes ja weiß, wie es besser geht: Im EQA, dem deutlich günstigeren Elektro-SUV, sitzen nämlich richtige Knöpfe im Lenkrad.
An der Ladestation gibt es hingegen nichts zu meckern. Nur eine halbe Stunde dauert es, um den Akku von zehn auf 80 Prozent aufzutanken. Eine Bezahlung per App oder Ladekarte ist in vielen Fällen nicht mehr nötig. Da die Bankverbindung im Auto hinterlegt ist, startet der Ladevorgang an der Raststätte direkt nach dem Einstöpseln. „Plug and Charge“ nennt sich dieses Verfahren. An einer Wallbox dauert es erwartungsgemäß länger, den riesigen Akku aufzuladen. Bei einer Ladeleistung von 11 Kilowatt braucht der EQS zehn Stunden, bis er wieder voll ist. Gegen Aufpreis (1.190 Euro) sind aber auch 22 Kilowatt möglich.
Alles in allem macht die Fahrt in diesem Fünf-Meter-Geschoss wirklich Spaß. Selbst nach einer stundenlangen Tour von Berlin nach Bonn komme ich erholt am Ziel an. Langweilig ist es unterwegs auch nicht geworden, denn der Bordcomputer erweist sich als gesprächiger Zeitgenosse. Auf die Bitte, einen Witz zu erzählen, erwidert der EQS: „Bei Autos verstehen deutsche Ingenieure keinen Spaß“.