Der Doublesieger Bayer Leverkusen strauchelt gehörig durch die aktuelle Saison. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit war schnell dahin – dafür gibt es jedoch Gründe.
Nur zwei Siege aus den letzten acht Pflichtspielen, neun Punkte Rückstand auf Tabellenführer FC Bayern: Nach dem Fabeljahr 2023/24 ist Bayer Leverkusen wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen – und betreibt längst Ursachenforschung. Sportchef Simon Rolfes befindet sich derzeit mit Head of Recruitment Kim Falkenberg, der Meisterschale und dem DFB-Pokal auf „Trophy Tour“ in Brasilien, behält das Geschehen in der Heimat aber natürlich im Blick. In Brasilien stellte der Ex-Bayer-Kapitän sich den Fragen nach den Gründen für diese Misere und landet dabei schnell bei den Neuzugängen wie Martin Terrier (27) oder Aleix García (27), die für insgesamt 53 Millionen Euro kamen, dem Spiel bislang aber nicht ihren Stempel nachhaltig aufdrücken konnten. „Bei den Zugängen ist Luft nach oben, mit Sicherheit“, sagte Rolfes dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Sie können sich noch besser integrieren und das gesamte Gebilde mehr in Schwung bringen. Da können die Neuen helfen, aber es sind nicht nur die Neuen gefordert. Alle Spieler haben Verbesserungspotenzial.“
Neuzugänge zünden nicht
In der „Bild“ erklärte er zudem, warum Victor Boniface (23), Granit Xhaka (32), Alejandro Grimaldo (29) und Co. vor einem Jahr leichteres Spiel hatten mit ihrem Durchbruch unter dem Bayer-Kreuz: „Es ist richtig, dass im Sommer 2023 hier alle Türen für die neuen Spieler offenstanden. Wir hatten damals keinen Linksverteidiger oder auch keinen gesunden Neuner. Da gab es damals schon einige Vakanzen.“ Für Neuzugänge sei es eben manchmal nicht leicht, „in ein bestehendes Team zu kommen. Wir haben großes Vertrauen in unsere Zugänge.“ Dass neben der hohen 0:4-Niederlage in der Champions League beim FC Liverpool auch die Spiele gegen die vermeintlich kleineren Gegner wie Holstein Kiel (2:2), Werder Bremen (2:2) oder zuletzt den VfL Bochum (1:1) nicht gewonnen werden konnten, macht Rolfes nicht an zu hoher Belastung fest. „Wir haben viele gute Spieler, können auch rotieren. Die Spieler sind englische Wochen gewohnt. Auch an einen Schatten der Vorsaison glaube ich nicht, das wird ja hier und da spekuliert. Mit Sicherheit ist die Erwartungshaltung in der Saison nach dem Doublegewinn eine andere gewesen. Aber jetzt haben wir Mitte November. Die letzte Saison ist Geschichte“, sagte er dem „KStA“. Es gehe nun um neue Ziele und darum, die mentale Stärke des Vorjahres wiederzuerlangen. Dafür fehlten jedoch bei jedem Spieler „ein paar Prozent zum Leistungsmaximum. Das summiert sich und beeinflusst das Mannschaftsspiel. Zum Beispiel könnten wir uns mit noch mehr Konsequenz Chancen erspielen. Oder die Chancen, die wir uns erspielen, noch besser nutzen. Das beeinflusst dann die Spielgeschichte – ob du das Spiel entscheidest und dann kontrollieren kannst.“ In Bochum sei die Möglichkeit da gewesen, das Spiel zu entscheiden, das zweite Tor gelang jedoch nicht – so konnte der VfL wieder rankommen. „Dass wir nach Spielen wie zuletzt in Bochum oder gegen Kiel und Bremen kritisiert werden, ist berechtigt“, findet auch Rolfes. „Dem müssen wir uns stellen und das muss Ansporn sein. Aber wir sind noch nicht bei 100 Prozent, weder individuell noch als Team.“
„Das muss unser Ansporn sein“
Wo genau die Problemfelder liegen, zeigt sich deutlich. Die Mannschaft hat den Schlendrian einkehren lassen. Wenn Leverkusen in der Saison 2023/24 zuschnappte, dann wie ein gefräßiges Raubtier, das seine Beute gnadenlos verschlingt. Keinen einzigen Punkt verspielte Bayer nach eigener Führung – in dieser Spielzeit verschenkte Leverkusen dagegen bereits einige Zähler. Kapitän Lukas Hradecky zeigte sich nach der Partie gegen Aufsteiger Kiel fassungslos: „Wir waren Meister, weil wir jedes Spiel angegangen sind wie die Verrückten. Heute habe ich diesen endlosen Willen nicht gesehen“, schimpfte der Torwart. Stattdessen kehrt immer öfter der Schlendrian ein: leichte Ballverluste, Missverständnisse, nur wenig Spielwitz. „Diese Lockerheit, ich weiß nicht, woher das kommt. Das ist insgesamt zu wenig“, kritisierte Hradecky. „Diese Leichtigkeit und Lockerheit hat was anderes als Seriosität ausgestrahlt – und das muss weg“, forderte er. Bisher gelang das nicht, wie die Werkself gegen Bochum wieder zeigte. Zudem setzt es zu viele Gegentore. Was Leverkusen über die kommende Länderspielpause ebenfalls dringend in den Griff bekommen muss, ist die Gegentorflut. Im Gegensatz zur Champions League und dem DFB-Pokal ließ Bayer 04 in jedem Ligaspiel bislang mindestens einen Treffer des jeweiligen Kontrahenten zu. Mit 16 Gegentoren hat die Werkself nur noch acht weniger als nach der gesamten vergangenen Saison auf dem Konto. Ein alarmierendes Zeichen. Die Abwehr um den deutschen Nationalspieler Jonathan Tah wackelt bedenklich. „So reicht es nicht“, mahnte Führungsspieler Granit Xhaka bereits nach dem glücklichen 4:3-Heimsieg Ende September gegen den VfL Wolfsburg mit Blick auf die Defensivabteilung. Die Worte des Schweizers verhallten offenbar. Dabei hat sich im Vergleich zur Vorsaison (16 Partien ohne Gegentor) personell kaum etwas getan. Rechtsverteidiger Josip Stanisic (Leih-Rückkehr zum FC Bayern) und Innenverteidiger Odilon Kossounou verließen Leverkusen zwar, mit Nordi Mukiele (Leihe von PSG) und Jeanuël Belocian (kam für 15 Millionen Euro von Stade Rennes) wurden jedoch gleichwertige Ersatzmänner gefunden – nur zünden sie momentan noch nicht. Außerdem schleichen sich immer wieder individuelle Fehler ins Leverkusener Spiel ein – wie gegen Kiel.
Zu dünne Offensive
Der erste Gegentreffer durch Max Geschwill (45.+5) fiel nach einem „dummen Standard“ (O-Ton Robert Andrich), dem Elfmetertreffer von Jann-Fiete Arp ging ein vermeidbares Foulspiel von Jeremie Frimpong voraus. Hinten passt es noch nicht – und vorne auch nicht. Kein Bundesliga-Team schießt häufiger aufs Tor als Bayer Leverkusen. In der Torschussstatistik steht die Werkself ganz oben. Dass daraus bisher nur 21 Treffer resultieren, darf als enttäuschend bewertet werden. Gegen Kiel reichten trotz drückender Überlegenheit und besten Chancen 23 Torschüsse nicht zu mehr als zwei Treffern. Außer Victor Boniface und Florian Wirtz (beide vier Treffer) hat kein Leverkusener mehr als ein Tor auf dem Konto. Neuzugang Martin Terrier ist sogar der einzige Stürmer neben Boniface mit Torerfolg. Das bedeutet im Umkehrschluss: Befinden sich Boniface und Wirtz mal nicht in Topform, sieht es offensiv düster aus. Zumal etwas noch Entscheidenderes fehlt als nur eine gute Chancenverwertung: Leverkusen ist der Killerinstinkt abhandengekommen. Gegen Kiel gab der Doublesieger die Punkte aus der Hand, „weil wir es vor allem in der ersten Halbzeit schon nicht beendet haben“, kritisierte Andrich.
Trotz schneller Tore von Boniface und Jonas Hofmann machte Bayer den Sack nicht zu. „Es ist unerklärlich gerade. Ich habe keine Worte dafür, wie wir nach einer 2:0-Führung noch 2:2 spielen“, kritisierte Hofmann. „Wir waren überlegen, wir waren am Drücker, aber nach dem 2:0 hat es gefehlt, dranzubleiben und aufs dritte zu gehen.“ Und selbst nach dem 2:2 schien es lange Zeit so, als würde Bayer die Brisanz eines möglichen Punktverlusts nicht erkennen. Das Gleiche gegen Bremen und Bochum, man könnte eine Schablone über die Spiele des Doublesiegers legen. Verlässt sich Leverkusen gar zu sehr auf seine Last-Minute-Stärke? 2023/2024 traf Leverkusen neunmal nach der 90. Minute. In dieser Spielzeit rettete die Alonso-Elf bereits zwei Siege dank Last-Minute-Treffern. Andrich mahnt: „Natürlich kann man immer am Ende noch hinten raus was machen, das wissen wir, das ist die Stärke. Aber wir brauchen uns nicht darauf verlassen, dass das immer wieder klappt – vor allem in den Spielen, wo du es wirklich vorher viel, viel klarer machen musst.“ Dieses Jahr wird sich dann ebenfalls zeigen, inwieweit Xabi Alonso mit dieser Flaute umgehen kann. Große Trainer können das – den Beweis wird er jetzt antreten müssen.