Alte Steinsetzungen, feiner Strand, zwischendurch eine gepflegte Fika: Auf rund 400 Kilometern führen Fahrradwege einmal um die Südspitze Schwedens – eine entspannte Gratwanderung zwischen Natur und Kultur. Unser Autor hat sich in den Sattel geschwungen.
Ein Tröten schallt durch die mittelalterlichen Gassen von Ystad. Allabendlich im Viertelstundentakt bläst der Turmwächter der Sankt-Marien-Kirche eine alte Lure, Vorgänger der Trompete in Skandinavien. Als traditionelles Zeichen, dass alles gut ist, es nirgends brennt. Das ist ja schon mal was in unruhigen Zeiten. Dabei beginnt schon die Anreise verheißungsvoll als persönliche Verkehrswende: Wir kommen mit dem Nachtzug Snälltåget. Berlin bis Mälmo – das geht im Schlaf und CO2-arm, dank Ökostrom, wie der Betreiber versichert. Als der Zug am Morgen in Malmö einfährt, fühlt sich das allein gut an, weil man ausgeruht ankommt. Nur: Die Fahrradmitnahme ist im Snälltåget nicht möglich.
Toller Blick vom Leuchtturm
Alles kein Problem: Am Hauptbahnhof kann man auf gut gewartete Mieträder umsatteln, um auf den beiden Küstenradwegen Sydkustleden und Sydostleden das südliche Schweden zu entdecken. Möchte man einen bestimmten Abschnitt bestreiten, werden Radler und Gerät mit Van und Hänger von der Verleihfirma dorthin gebracht. Unser Startpunkt ist nach einem Van-Transport Trelleborg, die südlichste Stadt Schwedens, in der 1988 Reste eines Wikingerforts aus dem 10. Jahrhundert entdeckt wurden. Heute ist die teilrestaurierte Trelleborgen eine Anlage aus Holz- und Erdbauten, begehbarer historischer Kern der Stadt. Wir kurven eine Runde um ihn herum und peilen den nächsten Stopp an: den südlichsten Punkt Schwedens. Wäre nicht ein Windrosen-Monument im Boden, würde sich der Südzipfel kaum vom Rest der Küste unterscheiden. So aber zieht er nach offiziellen Angaben jährlich 500.000 Besucher an. Die Tür zum nahen Leuchtturm öffnet uns Marco Daly, Vollbart, blaue Latzhose, Schirmmütze, ein Leuchtturm-Tattoo auf dem Unterarm.
Von oben ist die Aussicht auf die Ostsee klasse, doch nautisch hat das weißgetünchte Bauwerk keine Bedeutung mehr. „1975 wurde der Leuchtturm außer Betrieb genommen, für die moderne Schifffahrt gibt es einen neuen weiter draußen“, sagt Daly. Mit seiner Frau Joanna hat er das Anwesen zum Hostel mit Restaurant umgestaltet. Nun hofft er vor allem auf vorbeikommende Radreisende als Gäste.
Der Sattel ruft Richtung Ystad, 33 Kilometer entfernt. Ein Abstecher führt entlang knallgelber Rapsfelder: Schonen, das ist die Kornkammer Schwedens, was schon Nils Holgersson feststellte, als er die Region in Selma Lagerlöfs Roman vom Rücken einer Gans als einen Flickenteppich aus Feldern und Wiesen wahrnahm. Zurück auf dem Sydkustleden ist Genussradeln angesagt. Rechterhand immer das Meer im Blick, könnte man sich gar nicht verfahren.
Ein 40 Kilometer langer Sandstrand
Ankunft in der Krimi-Hauptstadt Schwedens, hier spielen Henning Mankells „Wallander“-Romane und eine Rolle darin das „Hotel Sekelgården“, in dem wir einchecken. „Unser Haus wird in den ersten fünf Wallander-Krimis erwähnt“, sagt Besitzer Peter Schōnström und berichtet vom stetigen Gästestrom, den diese Bewandtnis dem Hotel beschert hat.
Fündig werden Krimi-Fans unter anderem im Ystad Studios Visitor Center, wo sie Kurt Wallanders Wohnung betreten können, und noch tiefere Filmgeschichte gibt’s in der Stora Östergatan 12: Hier hat Schwedens ältestes, als solches gebaute Kino von 1910 überlebt, das wir bei einem Spaziergang durch die Vorzeige-Altstadt mit ihren 300 Fachwerkhäusern entdecken.
Brigitta Lundh und Bengt Nilsson zählen zu den Ehrenamtlichen, die sich um Programm und Erhalt kümmern. Sie zeigen uns den prunkvoll restaurierten Saal. Wie einst werden Vorführungen von einer Pause unterbrochen, in der man an die Bar schreitet. „Popcorn gibt es bei uns nicht“, sagt Brigitta. Dafür später im „Upp eller Ner“ – oben Restaurant, im Keller Bar – feinen Kabeljau auf Kartoffelpüree mit Dill-Deko. Auf dem Rückweg zum Hotel ertönt im Dunkeln das Tröten der Lure.
Das Küstenpanorama: ein Gemälde aus schier endlos hintereinander gestaffelten Buchten. Und auf dem Hochplateau stecken sie hochatmosphärisch im Boden, die 59, meist mehr als mannshohen Steinbrocken von Ales Stenar, Schwedens bekanntester Steinsetzung.
Die Landschaft wandelt sich. Im Naturreservat Sandhammaren wird es waldiger, hügeliger, uriger und es gipfelt in einem der schönsten Strandabschnitte, der manchmal als die Karibik Schwedens gehypt wird. Wir schieben die Räder auf Holzbohlen durch den Dünenkamm. Kaum eine Menschenseele verirrt sich im Mai zum Strand. Bei 8,5 Grad Wassertemperatur nehmen wir ein Fußbad.
Mit erfrischten Radlerwaden passieren wir Fischerdörfer wie Skillinge oder Brantevik, wo die Tulpenbeete vor den Häusern überborden. Aus Deutschland kommend holt man sich im Mai den Frühling zurück, der in Schonen ein paar Wochen später einsetzt.
Ab Simrishamn, wo wir übernachten, geht der Weg in den Sydostleden über, bald durch Apfelplantagen abseits der Küste, auch bei der Cidre-Produktion ist Schonen eine Größe. Fasane huschen ins Unterholz, die Vögel zwitschern, bevor sich der Fahrradweg wieder zum Meer hin öffnet, das im Osten auf rund 40 Kilometern südlich von Åhus ein einziger Sandstrand ist – die Aalküste. Noch rund 50 von einst 100 Fischschuppen stehen hier, in denen die Aalfischer einst übernachteten, einige davon sind heute zu Ferienhäusern umgebaut.
Wir brauchen erstmal Luft – ein Reifen ist platt. Am Campingplatz Rigeleje bei Blåherremölla hilft der Fahrer eines alten US-Schlittens mit einer Elektropumpe aus. Die Füllung reicht zum Glück bis Åhus, das wir nach 60 Kilometern erreichen, ein ebenfalls auf die Wikingerzeit zurückgehendes Städtchen mit historischem Kern, der von einem Industriebacksteinbau mit Schornstein überragt wird. Hier hat ein bekannter Wodka-Konzern seine Produktionsstätte. Bei Führungen können Gäste ihren eigenen Longdrink mixen, doch das Bier in der Århus Bryggerri am Abend schmeckt auch nicht schlecht.
Entlang an Äckern, auf denen bald die Getreidesaat für Knäckebrot und Wodka ausgebracht wird, führt uns der nächste Tag in ein Naturparadies nahe der Stadt Kristianstad, 20 Kilometer landeinwärts. Das Feuchtgebiet Vattenriket ist das südlichste der sieben Biosphärenreservate der Unesco in Schweden, das für Abwechslung sorgt, möchte man den Lenker mal gegen Paddel tauschen.
Kaffeepause im Fischerdörfchen
Nach einem weiteren Van-Transfer an den Öresund nach Lankskrona, satteln wir ein letztes Mal auf, um den Abschnitt des Sydkustledens nach Helsingborg kennenzulernen. Wir drehen bei Sonnenschein und knalligem Himmel eine kleine Pirouette im Innenhof der Zitadelle, einer gut erhaltenen Festungsanlage aus dem 16. Jahrhundert, als Schonen noch zu Dänemark zählte, 1658 wurde es schwedisch.
Das Meer erscheint türkis, darin erhebt sich die Insel Ven, beliebtes Ausflugsziel. Auf Sandbänken sitzen Schwäne, der Wind weht, die Pedale treten sich schwerer. Kein Problem für die Reiseteilnehmer, die sich für E-Bikes entschieden haben. Ein letzter Anstieg durch einst von Gletschern geformte Hügellandschaft, dann taucht die Kulisse Helsingborgs im Dunst des Öresunds auf. Die Dünen, die Meeresnähe, die vielen Einkehrmöglichkeiten zur Fika, wie die Kaffeepause in Schweden genannt wird, in verschlafenen, aber zur Saison touristisch betriebsamen Fischerörtchen wie Råå – dies macht diesen Abschnitt zu einem der reizvollsten auf dem Sydkustleden, an dem wir unsere Fahrräder nach knapp 30 Kilometern in einen Ständer schieben, um uns ein letztes Mal zu erfrischen, wie es die Schweden machen: Es geht zum Kaltbaden.
In Helsingborg gibt’s zwei Kaltbadehäuser, darunter das auf Holzpfählen stehende und authentisch wirkende Pålsjöbaden. Schwitzend blicken wir durch das bodentiefe Saunafenster auf die See, in die wir kurz darauf eintauchen: Wie angenehm zehn Grad frisches Wasser sein kann! Schon die Wikinger sollen übrigens um die gesundheitlichen Vorzüge kalten Wassers gewusst haben – nur Fahrräder hatten sie noch nicht.