In Hauts-de-France lässt sich die Vielfalt von Land und Meer erschmecken. 2023 wurde die Region offiziell zur „Europäischen Region der Gastronomie“ gekürt.
Beginnen wir unsere kulinarische Entdeckungsreise an der Küste: Die frische Brise des Ärmelkanals bringt den Geschmack des Meeres auf die Teller. In Boulogne-sur-Mer, dem größten Fischereihafen Frankreichs, schlendern wir über den Fischmarkt.
Hier unterscheidet man den „Artisan pêcheur“, den Fischer und Muschelsammler, der seinen Tagesfang selbst verkauft, und die „Commerçants“, die Händler, die ein Spektrum regionaler Meeresschätze anbieten. Fischverkäufer Enzo erzählt, dass sein Vater dieses Geschäftsmodell entwickelte, als die Erträge magerer wurden. Fischer sei ein harter Job und vieles sei von Überfischung bedroht. Fast 70 Arten von Fisch und Meeresfrüchten landen in den Töpfen der Region. Rund um Boulogne-sur-Mer und die Baie de Somme sind Austern ein wichtiger Bestandteil der nordmaritimen Gastronomie. Die Region ist bekannt für ihre traditionellen Austernzüchter, die „Huîtres“ in speziellen Becken und auf Gezeitenbänken züchten. Austern aus Boulogne-sur-Mer sind zart und salzig, mit einem Hauch von Jod, und werden mit Zitrone und Meersalz serviert. Die Austern der Baie de Canche haben einen markanteren salzigen Geschmack, während die Austern der Baie de Somme leicht süßlich und cremig sind.
Ein ikonisches nordfranzösisches Gericht sind die Miesmuscheln aus der Somme-Bucht, die in Gerichten wie Moules frites in Weißweinsud serviert werden. Typisch für die Region sind die „Pêcheurs a Pied“, die zu Fuß im Watt und den Meergärten der Somme-Mündung – wo sich Salz- mit Süßwasser verbindet – unterwegs sind. Reinette Vandamme, eine der letzten circa 140 lizenzierten „Fußfischerinnen“, holt seit 58 Jahren Miesmuscheln, Herzmuscheln und Palotes aus den Marschen. Seit 1988 züchtet sie auch den schillernden Seeringelwurm für Fischer. Sie beliefert fast alle Gastronomen der Region mit „Végetaux marins“, feinsalzigem, knackigem „Meergemüse“ wie Meer-Astern, Obione (Meerchips), Porphyra „Oreilles de cochon“ (Schweinsohren-Seetang oder Rote Algen) und Salicornes (Salzspargel). Diese vitamin- und mineralienreichen Zutaten landen in Salaten, Pürees, Quiches oder als Garnitur in der gehobenen Küche. Reinette schneidet das maritime Gemüse fast täglich noch von Hand. Privat dürfen nur 500 Gramm täglich geerntet werden.
Paprika, Knoblauch auf krustigem Brot
Die bekanntesten einheimischen Meeresfische sind Heringe, Sardinen und Makrelen, die im boulonnaisischen Nordhafen, etwa bei der ältesten Fischräucherei „Bourgain & Fils“, verarbeitet werden. Xavier Bourgain leitet stolz die 1921 von seiner Großmutter gegründete Manufaktur, die seit drei Generationen Hering, Makrelen und Co. in Handarbeit räuchert oder zu Rillette und Fischsuppe verarbeitet. Typische Nordseefische sind auch Kabeljau, Wolfsbarsch, Zander und Meeräsche. Der fein texturierte Steinbutt wird als „Turbot à la Crème“ mit Weißwein, Sahne und Kräutern serviert. Hauchdünne Flundern (Plie) und Schollen (Sole) werden in Butter angebraten. Aus der Somme kommt der „Anguilla“ (Aal) auf den Teller.
Seit den 1950ern ist das kultige Hafenrestaurant „Le Chatillon“ in der Zone Capécure geöffnet. Ab 5.30 Uhr morgens empfängt Wirtin Camille Baude Hafenarbeiter und Insider für den ersten Kaffee mit Sandwiches – an Fischauktionstagen sogar eine Stunde früher. Hier kommt man nur zum Lunch – um 16.30 Uhr schließt das Restaurant. Der „Assiette Boulonnaise“ bietet eine Auswahl an Geräuchertem und anderen Fischklassikern. Besonders sind die „Ailes de Raie“ (Rochenflügel) mit Kapernbutter und jungem Gemüse. Ihr zartes Fleisch wird mit der Gabel von den Gräten gestreift.
Gleich nebenan liegt eine weitere Manufaktur, die seit 1907 in vierter Generation geführt wird. Pierre Olivier führt das Erbe seines Vaters Philippe Olivier weiter, der wie seine Vorfahren Käse verfeinerte. Auf 600 Quadratmeter werden im familiengeführten Unternehmen etwa 250 Käsesorten aus ganz Frankreich in fünf klimatisierten Kellern gereift. Dies geschieht durch eine Kombination aus passendem Raumklima, Reifung auf Holz- und Strohunterlagen sowie spezieller Behandlung der Rinden mit Schimmel, Schmiere, Blumen, Kräutern oder Natur, um Geschmack, Aroma und Textur des Käses zu beeinflussen.
„Unser Hartkäse ‚Vieux Lille’ reift bis zu sechs Wochen und bietet ein breites Geschmacksspektrum von mild bis würzig“, erzählt Pierre Olivier stolz. Der Käse schmeckt nach gereiftem Holz mit einem Hauch geröstetem Brot und passt gut zum obergärigen, in Flaschen nachgereiften Bière de garde oder dem malzig-hopfigen Ch’ti. Das Bière Picon, mit einem Schuss bitterem Orangenlikör, ist ebenfalls sehr beliebt. Der Nationalkäse Maroilles wird durch Croûte Lavage (Waschung mit Aromen) veredelt und ist ein Erfolgskäse, besonders als Gratin oder in der Tarte. Ein Besuch im Käsereidorf Maroilles in der „La Ferme du Pont des Loups“ lohnt sich, wo auch Varianten wie der „Delfin“ mit Estragon verkostet werden können. Im Avesnois sollte man auch den roten Boulette d’Avesnes mit Paprika, Knoblauch und Kräutern auf krustigem Brot probieren, sowie die Robotte – eine bäuerliche Paté aus gehacktem Schweinefleisch, Gewürzen, Gemüse, Kräutern und Pilzen.
„Fast alles wie unsere Großväter“
Die französisch-flämische Gastlichkeit spiegelt sich in den Estaminets rund um Lille wider. Diese rustikalen Gaststätten sind eine Mischung aus Café, Kneipe und Restaurant, mit dunklen Holztäfelungen, Kacheln, Fotos und historischem Wandschmuck. Hier liebt man herzhafte Gerichte. Auf der Karte stehen regionale Klassiker, meistens begleitet von Salat und Pommes frites. Eine Empfehlung ist der „Assiette Régionale“ im Estaminet „Au Vieux de la Vieille“ in Lille: eine Mischung aus Carbonade Flamande (mit Septante 5-Bier und in braunem Zucker geschmortes Rindfleisch), Potjevleesch aus Nord-Pas-de-Calais (eine kalte Terrine aus Schwein, Kalb, Huhn, Kaninchen) und das französisch interpretierte britische Erbe „Welsh“ (in Bier getränktes Brot mit Schinken, Senf und Maroilles-Gratiné).
Vegetarier kommen in Nordfrankreich nicht zu kurz. Besonders beliebt ist die Flamiches aux poireaux, eine Lauchquiche mit buttrigem Teig, die perfekt zu einem knackigen Chicorée-Salat mit Walnüssen passt. Die Region ist bekannt für den Anbau von Artischocken, Lauch und Rüben, sowie den traditionellen Anbau leicht bitterer Endivien (Chicon, Chicorée ou Coucougnettes). Süßlicher sind die Witloof. Dank des mäßig-kühlen, regenreichen Klimas und der lockeren, fruchtbaren Böden gedeihen diese Gemüsearten hier bestens. Sie landen in Salaten, Suppen oder Gratins, oft mit Zwiebeln, Karotten, viel Crème fraîche oder einem Schuss Starkbier. Die einzigartige Form des Gemüseanbaus praktizieren die „Hortillons“ in den schwimmenden Gärten von Amiens.
Viele Parzellen sind nur mit dem Boot zu erreichen. Die Gemüsebauern verkaufen Kräuter, Blattgemüse und Radieschen, die dank der Böden besonders mild sind. Tiefwurzelnde Gemüsesorten wie Kartoffeln, Knoblauch oder Möhren sind weniger geeignet. „Die Erde trinkt viel von Fluss und Regen. Wir machen fast alles wie unsere Großväter vor 300 Jahren von Hand. Da steckt viel Ideologie drin“, erzählt Patrick Jourdain, einer der letzten zehn professionellen Gemüsebauern. Sein Sohn Romain ist die fünfte Generation.
Auch beim Dessert trifft das Fluffige auf das Leichte: Im Gâteau Batu, einer Art Brioche-Gugelhupf, werden viele Eier und Butter lange schaumig gerührt. Die „Gaufres lilloises“ – Waffeln aus Lille mit Vanille- oder Zuckercreme – zergehen förmlich auf der Zunge. Macarons d’Amiens, gefüllt mit Mandelcreme und in Goldpapier verpackt, sind formidable Mitbringsel.
„Les Merveilleux de Fred“, eine Manufaktur für Baisers mit diversen Creme-Füllungen, hat ihr Stammhaus in Lille und mittlerweile Ableger in ganz Europa. Ein erfrischender Abschluss sind die Bêtises de Cambrai – kleine Minzbonbons mit zarter Süße und einem Hauch von Menthol. Sie gehören in jede Provianttasche auf der kulinarischen Reise durch Nordfrankreich.