Das Forum Alte Post in Pirmasens zeigt derzeit die Ausstellung „Gestern. Heute. Morgen? Fotografien zum Strukturwandel in der Großregion", die in Zusammenarbeit mit dem Online-Archiv „PixxelCult" entstanden ist.
Die Stadt Pirmasens ist für gewöhnlich nicht unbedingt als Schmelztiegel der Hochkultur bekannt. Die schwierige, finanzielle Haushaltslage, die nach dem Niedergang der Schuhindustrie entstanden war, ist hier sicherlich zum Teil mitverantwortlich. Seit dem Jahr 2013 glänzt jedoch ein Leuchtturmprojekt: das Kulturzentrum Forum Alte Post. Das ehemalige, Ende des 19. Jahrhunderts erbaute Königlich Bayerische Postamt bietet nach einer umfassenden Sanierung eine äußerlich faszinierende architektonische Hülle, die im Inneren mit ansprechenden Ausstellungsräumen fortgeführt wird. Zwei sehenswerte Dauerausstellungen werden in der Heinrich-Bürkel-Galerie und im Hugo-Ball-Kabinett gezeigt, darüber hinaus organisiert die für das Forum verantwortliche Kulturwissenschaftlerin Charlotte Veit ambitionierte Wechselausstellungen. Gemeinsam mit dem „PixxelCult"-Vorsitzenden Thomas Roessler hat sie für die aktuelle Ausstellung „Gestern. Heute. Morgen?" eine Auswahl von 18 Foto-Serien getroffen.
Ambitionierte Wechselausstellung
Der in Saarbrücken ansässige Verein „PixxelCult", der sich die „Förderung der Fotografie als kulturelles Gedächtnis im Saarland und der Großregion" auf die Fahnen geschrieben hat, bietet all denen eine Präsenzmöglichkeit, die im dokumentarischen Stil arbeiten – und in Bildserien. Einzelne Fotos werden nicht angenommen. Ganz gleich ob Amateur oder professioneller Fotograf, alle können mitmachen und ihre Fotos anonym bei einer Jury einreichen, die dann darüber entscheidet, ob die Serie ins Online-Archiv aufgenommen wird. Wichtig ist den Verantwortlichen, dass die Bildserien in der Großregion entstanden sind. In diesem Jahr ist es nach einer Schau im Museum St. Wendel und zuletzt einer Ausstellungsbeteiligung in Metz bereits das dritte Mal, dass „PixxelCult" die virtuelle Welt verlässt und im realen Ausstellungsraum präsent ist. Die für das Forum Alte Post ausgewählten Serien erzählen ganz unterschiedliche Geschichten vom Strukturwandel – je nach Blickwinkel beziehungsweise den verschiedenen Zeiten und Orten der jeweiligen Aufnahmen, von denen die früheste aus dem Jahr 1978 stammt. Der gebürtige Saarbrücker und heute in Gelsenkirchen lebende Fotograf Joachim Schumacher hat sie aufgenommen, und zwar kurz nach seinem Studium der visuellen Kommunikation mit Schwerpunkt Fotografie bei Otto Steinert in Essen. Unter dem Serientitel „Farbiges Völklingen" vereint er urbane Ansichten, die die damals noch aktive Völklinger Hütte omnipräsent erscheinen lassen. Auch verschiedene Einblicke in die einst gut besuchten Völklinger Kneipen sind letztlich ein Indiz für den Wohlstand, der mit der Hütte einherging. Die Fotos entstanden als Probeauftrag für die Zeitschrift „Geo".
Die belgische Stadt Charleroi – und mit ihr die hässliche Fratze urbaner Tristesse – ist gleich zweimal als Thema in der Ausstellung präsent. Joachim Schumacher zeigt eine Serie mit trostlosen Ansichten Charlerois nach dem Niedergang der Schwerindustrie. Aufgenommen hat er sie im Jahr 2003 mit einer Panoramakamera auf Farbfilm und aus eigenem, dokumentarischem Interesse. Erwähnenswert erscheint dies, da Schumacher im Winter 1986 schon einmal in Charleroi war, um eine Schwarz-Weiß-Serie aufzunehmen und zwar im Auftrag des Kommunalverbandes Ruhrgebiet. Im Vordergrund sollte die Tristesse stehen, um zu verdeutlichen „wie weit der Strukturwandel im Ruhrgebiet bereits vorangeschritten war – im Vergleich zu der Region um Charleroi". Die jetzige Farb-Serie ist auf Forex-Platten aufgezogen und unterstreicht damit einen nüchternen Charakter. Auch Heiko Hebig hat den städtebaulichen Niedergang Charlerois zwischen 2005 und 2016 immer wieder dokumentiert. Dabei geht er jeweils nach dem gleichen Prinzip vor, wie Thomas Roessler erläutert: „Hebig beginnt seine dokumentarische Fotoserie immer am Stahlstandort, egal ob dieser noch aktiv ist oder nicht. Danach arbeitet er sich in die Peripherie vor. Er ist immer mit der Plattenkamera unterwegs. Sein großes Ziel: Er will alle europäischen Stahlstandorte dokumentieren." Besonders beeindruckt hat ihn offenbar das „L’amicale Solvay", das ehemalige – mittlerweile vandalisierte – Feierabendhaus auf dem Werksgelände der Solvay-Fabrik. Dort gab es für die Mitarbeiter konzerneigene Freizeitaktivitäten im Theatersaal, Casino oder Schwimmbad. Das ist lange vorbei und heute unvorstellbar.
Dokumentation von Stahlstandorten
Hebigs Serie tritt räumlich beziehungsweise kuratorisch in einen Dialog mit den Fotografien des Saarländers André Mailänder über die Umgestaltung des luxemburgischen Kirchbergs, der sich zu einem modernen Ballungszentrum mit kühler Architektur, großzügigen (leeren) Straßenachsen und exklusiven Freizeittempeln gewandelt hat. Seine Serie entstand in den Jahren 2006 und 2007 im Auftrag des „Fonds d’Urbanisation et d’Aménagement du Plateau de Kirchberg". Die vor allem am Wochenende spürbare Leere auf dem Kirchberg zeigt sich bei Mailänder zudem durch den Verzicht auf abgebildete Menschen und einen (fast immer) bis zur Bildhälfte reichenden, leeren Vordergrund. Der Kirchberg beziehungsweise die Fotografien davon wirken wie mit angehaltenem Atem aufgenommen.
Ganz anders zeigen sich die beeindruckenden Schwarz-Weiß-Fotoserien „Bataville" (2018) und „Zuhause am Werk" (2017–2019) von Angelika Perhoc, die in den letzten Jahren überwiegend in dokumentarischen Serien arbeitete und seit 2015 auch ein Langzeitprojekt fotografiert, nämlich die Umsiedlung von Dörfern, die einem Braunkohletagebaugebiet weichen müssen. In der hier gezeigten Serie „Bataville" wechseln die Ansichten zwischen dem morbiden Charme seit 2001 leerstehender Industrieanlagen und gepflegten Einfamilienhäusern des lothringischen Ortes.
Verzahnung von Leben und Arbeiten
Damit gelingt es ihr, das Konzept des Schuhfabrikanten Tomáš Bata zu verdeutlichen, der die Kombination von Arbeiten und Wohnen mit den an die Fabriken angrenzenden Arbeiter-Wohnsiedlungen an fast allen Produktionsstandorten umsetzen konnte. Perhocs Serie „Zuhause am Werk" (2017–2019) vereint in 24 Aufnahmen verschiedene Orte der Großregion, die die enge Verzahnung von Leben und Arbeiten aufzeigen. Das jeweilige (Hütten-)Werk beziehungsweise Fabrikgebäude, das die Familien ernährte, ist allgegenwärtig zwischen oder hinter den Wohnhäusern, zuweilen sogar in Verbindung mit der letzten Ruhestätte. Aber nicht nur Industriehallen und verlassene Standorte der Schwerindustrie erzählen vom Strukturwandel, sondern auch Abbilder derjenigen, die davon betroffen sind und ihren Arbeitsplatz verloren haben. Im Erdgeschoss beschließt eine Porträtserie von den letzten Betriebsangehörigen von Halberg Guss Brebach des Saarbrücker Fotografen – und Art Directors der „Saarbrücker Zeitung" – Robby Lorenz mit dem Titel „Jobs of Yesterday" (2020) den Ausstellungsparcours. Die optisch gelungene Hängung aus ungerahmter Großfläche im Kontrast zu kleineren, gerahmten Formaten (der deutsche Superstar Wolfgang Tillmans hatte diese Art der Hängung einst publik- und salonfähig gemacht) können die Besucher eine Etage höher an gleicher Stelle erneut erleben, nun als zweiten Teil von Lorenz Serie mit dem Titel „Jobs of Tomorrow". Eine sinnstiftende Verzahnung von Inhalt und Raum über zwei Etagen hinweg. Und ein positiver Blick in die Zukunft.
Den Reiz von „Lost Places" dokumentieren ferner eindrucksvoll zwei Serien von stillgelegten Fabriken: Luc Dufrenes Aufnahmen der Tabakmanufaktur in Metz (2009–2014) und Jörg Heiecks Fotografien des Areals des Nähmaschinen-Herstellers Pfaff in Kaiserslautern (2010–2016).
In dieser Ausstellung passt alles zusammen: Idee, Konzept, Hängung sowie ein exquisiter Katalog (Gestaltung: Patrick Bittner). „Was gestern war, wirkt heute nach und ändert sich für morgen", formuliert Charlotte Veit im Katalog eine Umschreibung für den Begriff „Strukturwandel".
Das „PixxelCult"-Archiv lässt uns mit den ausgewählten Fotografien an Geschichten des Wandels teilhaben – ganz ohne Worte. Dafür umso bildgewaltiger. Chapeau!