Diesmal sollte es wirklich eine „echte Richtungswahl“ werden, beteuerten alle im Wahlkampf. Es ging um große Streitthemen. Es geht aber auch um einen grundlegenden Kulturkampf darum, wohin sich die Gesellschaft entwickelt.
Es war ein verquerer Wahlkampf. Wochenlang schien es nur ein Thema zu geben: Migration. Aber das war nur der mediale Teil der Wahrheit. Für die Menschen im Land kam das Thema vor der Wahl nicht einmal aufs Siegertreppchen der drei wichtigsten Themen für ihre persönliche Wahlentscheidung und damit in ihrem konkreten Lebensalltag. Trotzdem hat die Debatte Wirkungen gezeigt, deren Folgen für die Zukunft noch gar nicht in ganzer Breite abzuschätzen sind.
Der Streit um die vielzitierte „Brandmauer“ spiegelt im Kern einen Kulturkampf, der seit geraumer Zeit in den westlichen demokratischen Staaten ausgetragen wird. Die unverhohlen offenen Einflussversuche von Multimilliardär Elon Musk und die Verbalattacken von US-Vizepräsident JD Vance deuten an, dass dieser Kulturkampf nun auf die Spitze getrieben werden soll.
Renommierte Soziologen analysieren die Verschiebung von früheren Verteilungskonflikten hin zu Kultur- und Identitätsfragen schon seit geraumer Zeit und machen einen entscheidenden Unterschied aus: Verteilungskonflikte, bei denen es vor allem um materielle Fragen geht, können durch Kompromisse entschärft werden. Tarifverhandlungen sind ein prominentes Beispiel dafür.
Kultur- und Identitätsfragen sind dagegen „Wahrheitsfragen“, die moralisch so aufgeladen werden, „dass wir nicht mehr über Kompromisse nachdenken können“, erläutert der Soziologe Wolfgang Merkel.
Auf der einen Seite ein links-liberales, universalistisches Weltbild, auf der anderen traditionalistisch-autoritär-nationalistische Vorstellungen, die sich unversöhnlich gegenüber stehen und sich entlang der Themen Migration, Antirassismus, Law-and-Order, Gender Mainstreaming oder Klima bekämpfen.
Allesamt Themen, für die der Soziologe Steffen Mau (mit Kollegen) feststellt: „Konflikte werden gesellschaftlich hergestellt, sie werden entfacht, getriggert und zugespitzt.“ Es gibt „Themenkonjunkturen, Mobilisierungsressourcen und neue Deutungshorizonte“. Womit er ziemlich exakt beschreibt, was im Wahlkampf mit Themen wie Migration und Sicherheit passiert ist.

Andere, ebenfalls vorhandene gesellschaftliche Ungleichheitskonflikte gehen gegenüber den künstlich getriggerten Themenwelten ziemlich unter. Die SPD konnte mit ihren klassisch sozialdemokratischen Themen, die Verteilungskonflikte berühren, über weite Strecken kaum landen, das Klimathema der Grünen wurde, wenn überhaupt, mit spitzen Fingern angefasst. Trotzdem: Diese Konflikte sind da und bleiben.
Steffen Mau hat mit Kollegen in einer großangelegten Studie vier große Konfliktfelder analysiert, die auch in den Augen der Menschen besonders konfliktreich sind. Der Soziologe beschreibt sie als „Arenen der Ungleichheitskonflikte“: „Oben-Unten“ (Mieten, Preise, Renten, Einkommen, Bildung), „Heute-Morgen“ (Klimawandel, Energie- und Verkehrswende), „Innen-Außen“ (Migration), die jeweils mit mehr als 70 Prozent als „sehr starker“ oder „eher starker“ Konflikt wahrgenommen werden, sowie mit etwas Abstand „Wir-Sie“ (Political Correctness, Gender, sexuelle Minderheiten), was für 50 Prozent ein starker Konflikt ist.
Damit zeigt auch diese wissenschaftliche Studie, lange vor dem Wahlkampf veröffentlicht, was die Menschen wirklich bewegt. Die Studie verdeutlicht aber auch, dass es dabei durchaus einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt, zumindest im Grundsatz. Mehr zu tun für Klimaschutz, findet eine breite Zustimmung – konfliktreich wird es, wenn es an die konkrete Umsetzung, das Wie, geht. Ebenso gibt es eine breite Toleranz hinsichtlich sexueller Diversität, soweit es die persönliche Lebensführung betrifft. Aber sobald daraus ein gesellschaftlicher Anspruch erhoben wird, wird es schwierig.
Zugleich zeigen Untersuchungen wie die „Mitte-Studie“ oder der „Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor“, wie ausgeprägt rechtsextreme und menschenfeindliche Einstellungen sind. Gleichzeitig gibt es auch breiten gesellschaftlichen Protest dagegen, wie die großen Kundgebungen vor einem Jahr nach der „Correctiv“-Veröffentlichung und in diesem Jahr nach den Debatten und Abstimmungen (mit Unterstützung der AfD) zur Migrationspolitik gezeigt haben.
Trump exportiert den Kulturkampf
An diesen Konfliktfeldern haben schon in der Vergangenheit Einflussnahmen von außen angedockt mit dem Ziel der Destabilisierung. Bislang gab es die Versuche der Beeinflussung und Manipulation vor allem aus Russland.
Seit der erneuten Amtsübernahme von Donald Trump sind er selbst und seine Leute dabei, alles zu triggern, was diese Destabilisierungsversuche weiter vorantreibt. Und das nicht nur sozusagen klammheimlich durch die Hintertür vor allem über Social-Media-Kanäle, sondern mit einer geradezu offenen Dreistigkeit, die auch kein Problem damit hat, russische Narrative eins zu eins zu übernehmen. Das hat in weiten Teilen der europäischen und der deutschen Politik wenige Tage vor der Bundestagswahl für blankes Entsetzen gesorgt – außer natürlich bei denen, die ohnehin schon mit diesen Narrativen unterwegs waren. Das wiederum rückt die „Brandmauer“-Diskussion in ein ganz neues Licht.
„This ist not America“, hatte Steffen Mau noch eines der Kapital seiner großen Studie überschrieben. Aber offensichtlich versucht nun Trumps Truppe, den US-amerikanischen Kulturkampf zu exportieren, nach Europa und vor allem nach Deutschland.
Dieser Kulturkampf läuft an den unterschiedlichsten Stellen immer nach dem gleichen Muster ab, zu besichtigen in Orbáns Ungarn, Ficos Slowakei, in acht Jahren PiS in Polen, und in Ansätzen jetzt in Melonis Italien. Und dort, wo die Repräsentanten nicht an der Macht sind, kündigen sie im Kern dasselbe an: Erst wird das Vertrauen in staatliche und demokratische Institutionen untergraben, dann geht es gegen unabhängige Justiz, unabhängige Medien und unabhängige Kultureinrichtungen. Und immer geht es pauschal und kollektiv gegen Migranten.
Angedockt an den Themenfeldern, die sich besonders gut triggern lassen, wird mit Methoden von Feindbildern und Sündenböcken gearbeitet: „die Eliten“, „die Migranten“.
Die Erzählung ist immer dieselbe. Trump hat sie in den USA mit „MAGA“ („Make America Great Again“) kultiviert und will sie nun offenbar mit gnadenloser Rücksichtslosigkeit als globales Prinzip durchboxen. Gewirkt hat es schon vor seiner zweiten Wahl. Eines der sichtbarsten Zeichen: Orbán hat es gleich als Überschrift über die sechs Monate EU-Ratspräsidentschaft Ungarns im vergangenen Jahr übernommen.
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin hat kürzlich im FORUM-Interview darauf hingewiesen, dass in Europa, damit auch hierzulande, lange unterschätzt wurde, welch durchschlagende Bedeutung dieser Kulturkampf in den USA für die Wiederwahl Trumps hatte.
Und vermutlich ist bislang auch unterschätzt worden, dass der Aufstieg rechter, rechtsextremer und rechtsradikaler Parteien vor allem darauf gründet.
Wobei die Felder dieses Kulturkampfes durchaus auch in der „Mitte“ der Gesellschaft liegen. Eine Ahnung davon gibt vielleicht, dass auch bei Parteitagen der Union der Applaus an den Stellen auffällig lautstark ausfällt, wo es um Gender-Themen oder gegen „grüne Ideologen“ geht.
Was wieder zurückführt auf die „Arenen der Ungleichheitskonflikte“.
Die neue Regierung steht somit nicht nur vor riesigen sachlichen „Baustellen“, sondern eben auch vor einem gesellschaftlichen Kampf über die Frage, wie wir leben wollen. Und das ist auch eine Frage der politischen Kultur.