Brüssel wird von außen oft lediglich als institutioneller Sitz des Europäischen Parlaments wahrgenommen. Dabei punktet die belgische Hauptstadt mit einer vielfältigen Museen- und Galerienszene als weltoffene Kunstmetropole.
In der Stadt, geprägt von 180 Nationalitäten, hat sich die internationale Kunstszene ein buntes Nest gebaut. Daher zieht es künstlerische Newcomer, Architekten, Designer und höchst motivierte Sammler nach Brüssel. Die durchstreifen die gut vernetzte Kunstlandschaft, auf der Suche nach Jungkünstlern mit Potenzial.
Mehr als 200 Galerien und viel Raum zum Spielen
Längst haben sich Messen und Events wie das Gallery Weekend im Herbst nicht nur etabliert, die 1968 erst-initiierte Art Brussels ist eine der ältesten Kunstmessen Europas. Mehr als 200 Galerien und an die 100 Museen sind über die Stadt verteilt. Wie typisch für Kunst-Metropolen wurden auch in Brüssel viele Industriebrachen in Kunststätten umgewandelt. Die „New York Times" hatte Brüssel 2015 sogar als „The New Berlin" betitelt. Denn auch Brüssel kommt von der Stimmung ähnlich gelassen daher, wie man es von Berlin in den Jahren nach der Wende kannte. Atelier-Mieten sind in Brüssel noch erschwinglich, auch weil die Stadt wie eine Insel mitten in Flandern liegt und die Flamen sich mit der Mehrheit der französischen Wallonen die Hauptstadt teilen. Die Mühlen mahlen langsam: Man ist sich nicht immer einig, was städtische Entscheidungen und Bauvorhaben betrifft, das kommt den Kreativen oft zugute. In Belgiens Hauptstadt haben sie viel Raum zum Spielen. Die Kunst tanzt auf dem Grad zwischen Understatement und Institutionellem.
Ein langes Wochenende ist perfekt für eine prall gefüllte Exkursion zu den verstreut im Stadtgebiet liegenden „Kunstinseln". Dabei geht es durchaus auch leicht bergauf und bergab, denn Brüssel liegt in der hügeligen Landschaft des Senne-Tals.
Ausgangspunkt ist der „erhabene Wächter" der Stadt: Der Weg hinauf zum monumentalen Palais de la Justice zeigt sich mit einem Augenzwinkern.Eine liebevoll aufgemalte Schmetterlingswiese markiert den Aufstieg auf porösem Stein. Die gesamte Stadt ist eine Projektionsfläche für Graffiti und andere wechselnde Street-Art wie die unzähligen fassadenhohen Comic-Auszüge.
Kunst als Zukunftslabor
Die Kuppel des Justizpalasts ist seit 20 Jahren eingerüstet und nun ist das Gerüst selbst renovierungsbedürftig. Brüssel ist nun mal keine aufgeputzte, reiche Stadt, sondern gibt sich nonchalant. Das Aussichtsplateau am Fuße von Justitia bietet einen weiten Blick über das architektonisch wild zusammengewürfelte Stadtpanorama. Die Sonne spiegelt sich in „The Cloud": Die 7,50 Meter lange „entgrenzende" Aluminium-Skulptur von Luk van Soom scheint über den Dächern zu schweben. Im urbanen Horizont vermischen sich kupferne Rundkuppeln mit Wolkenkratzern und schnörkeligen Art-déco-Palästen. Alles scheint verbunden. Auch wenn der Topografie die klare Linie fehlt, ist Brüssel eine einzige Grafik, die immer wieder neue Farben, Linien und damit reichlich Stoff für Inspiration hervorbringt.
Drei männliche, nackte Gestalten halten die surreale Wolke auf dem Espace Jacqmotte, der zum Quartier Les Marolles gehört. Mit dem über eine futuristische Brücke zu erreichenden gläsernen Fahrstuhl könnte man direkt in die hippe Downtown zum täglichen Flohmarkt, den Off-Galerien und trendigen Bars abtauchen. Stattdessen geht es weiter zum „Mont des Arts" – dem „Kunstberg" im Quartier Royal mit seiner akkuraten Gartenanlage und dem mehrarmigen Springbrunnen. Umgeben ist der klassizistische Platz von der Brüsseler Museumsmeile mit dem Verbund der „Königlichen Museen der schönen Künste", die ihre etwa 20.000 Kunstwerke stadtweit über sechs Museen verteilt haben. Sie zählen zu den 100 beliebtesten Kunstmuseen weltweit. Darunter sei das Musée Magritte am Place Royale genannt, das die weltgrößte Sammlung des Künstlers besitzt. Der vielleicht bekannteste Sohn der Stadt hatte den Surrealismus maßgeblich geprägt. Magritte verstand es meisterlich, die Wirklichkeit mit seinen Träumen zu vermischen. Man bräuchte wohl drei Tage, um alle „Royalen" zu durchstreifen. So streift man das Musikinstrumentenmuseum in der Rue Montagne de la Cour nur kurz mit einem Blick: sein neoklassizistisches Längsgebäude klebt an einem Art-Nouveau-Gebäude, eines von Brüssels Schmuckstücken dieser Epoche.
Residenzen für 20 Künstler
Der nächste Stopp ist das Bozar – The Centre for Fine Arts. Auch als „Palast der schönen Künste" betitelt, macht er auf 4.000 Quadratmeter multimedialer Ausstellungsflächen für Kunst, Kino, Literatur und Konzerte seinem Namen alle Ehre. Es ist eines der größten multidisziplinären Kulturprojekte, das sich als ein soziokulturelles Zukunftslabor begreift. Das Eintreten in die monumentale Haupthalle – ein lichtes Atrium mit Marmorboden ist gleichzeitig auch die Begegnung mit dem renommierten Jugendstil- und Art-déco-Architekten Victor Horta. Mit seiner Handschrift prägt er einen großen Teil von Brüssels architektonischem Kulturgut. Bedeutenden Namen der zeitgenössischen Szene hat das Bozar bereits seine Pforten geöffnet: neben Yves Klein oder Keith Haring wurde die Fläche kürzlich auch vom in Flandern gehypten Rinus Van de Velde bespielt. Nicht weit entfernt liegt das Viertel Sablon, das neben den besten Chocolatiers der Stadt gleich mit einem ganzen Wald bedeutender Galerien aufwarten. Es gilt als Zentrum des europäischen Kunsthandels. Weiter führt der Weg zu einer südwestlich am Stadtrand gelegenen Lieblingsadresse: Das Wiels – „Zentrum für zeitgenössische Kunst" wurde 2007 in einer ehemaligen Brauerei eröffnet. Der denkmalgeschützte Industriebau mit Sichtbeton-Ästhetik des Architekten Adrien Blomme ist mittlerweile ein Laboratorium für neue progressive Kunst mit dem Fokus auf Malerei, Bildhauerei, Video und Objektkunst. Neben Ausstellungen belgischer und internationaler Künstler bietet die 1.800 Quadratmeter große Location auch Residenzen für 20 Künstler. Auf den Vernissagen der sechs jährlich wechselnden Ausstellungen trifft sich das Who is Who der Szene.
Die Kunst von der Straße zu holen und – vom Hacking bis zum Elektrosound – zeitgemäße Themenwelten aufzugreifen, das ist das Anliegen des privat geführten Millennium Iconoclast Museum of Art. Das Mima sitzt im Molenbeek Viertel direkt am Charleroi-Kanal. Auch hier wurde einst über drei Etagen süffiges Bier in der ehemaligen Bellevue-Brauerei gebraut. Eine Dauer- und zwei jährlich wechselnde Ausstellungen präsentieren das schrille Allerlei der Subkulturen. Ein jung-wilder Mix aus Skateboard-, Comic-, Tattoo-, kurz Street-Art bekommt hier seine Bühne. Zurück Richtung Zentrum empfiehlt sich noch ein Stopp im La Centrale, das in einem ehemaligen Kraftwerk am Place Sainte Catherine, Brüssels einzigem rein flämischen Viertel, situiert ist. Als das angesagte Zentrum für zeitgenössische Kunst werden hier soziokulturelle, urbane Themen vielfältig umgesetzt. Momentan beispielsweise sind die archaisch anmutenden Video-Skulpturen und Performance-Installationen „This is what you came for" von Els Dietvorst zu sehen. Die größte Konkurrenz bekommen Brüssels Contemporary Art Tempel mit der für 2024 geplanten Eröffnung von Le Kanal – Centre Pompidou. Die transformierte, ehemalige Citroën-Werkstatt liegt ebenfalls im Industrieviertel Molenbeek. Auf 35.000 Quadratmeter kommen dann mit dem ambitionierten Projekt erstmals ein Museum für Moderne, zeitgenössische und darstellende Kunst und ein Architekturmuseum unter ein Dach und nach Brüssel.
Nach dem Kunst-Parcours entspannt es sich noch ein paar Tage an der nahen Küste in Ostende. Dort warten die lange umstrittenen, heute geliebten, knallroten Rockstranger-Skulpturen von Arne Quinze, die an der langen Strandpromenade vor dem flachen Meer berührend surreal ins Auge fallen.