In Kapstadt feiert man Neujahr nicht nur mit einem Feuerwerk in der Silvesternacht. Am Abend des 2. Januar geht die Party weiter – noch farbiger und viel lauter. Hunderttausend Menschen treffen sich bei der Prozession zum „Tweede Nuwe Jaar“ auf den Straßen.

Zur blauen Stunde nach Sonnenuntergang, wenn sich der Vorhang der Nacht über die bonbonbunt schönen Häuser senkt, kommt das historische Viertel Bo-Kaap eigentlich zur Ruhe. An normalen Tagen hört man hier, mitten in Kapstadt, dann nur noch ab und an Schritte auf dem Straßenpflaster. Hinter den gekippten Fenstern plärren die Fernseher. Und das Herz des Quartiers schlägt sanft, fast unhörbar und ganz regelmäßig wie das eines Menschen, der sich schlafen legt.
Heute aber ist alles anders. Dieses Herz schlägt nun erregt, ungestüm und laut. Es wird angetrieben von eingängigen Rhythmen, die dem Körper keine Pausen mehr gönnen. Die Terrassen und Balkone sind voller Leute, auch auf den Straßen des Bo-Kaap drängen sich die Menschen dicht an dicht. Die Musik der Bläser und Trommler lässt sich anfangs noch unterscheiden. Doch wenn sie in einer Art von musikalischem Wettstreit gegeneinander anspielen, um die Gegenseite aus dem Takt zu bringen, verschmilzt alles zu einem treibenden, ohrenbetäubenden Tutti.

Eine Truppe Spielleute nach der anderen zieht vorbei, immer mit hundert oder noch mehr Teilnehmern. Mal wirkt der Auftritt der Minstrels wie eine seriöse Militärparade, dann wie die Tollerei eines Karnevalvereins. Die Tambourmajore lassen ihre Trommler zwar mit eiserner Präzision marschieren. Doch statt Gala-Uniform oder Tarnflecken-Muster tragen die Musiker Kostüme in schrillen Farben. Sie haben sich mit Schminke und Glitzer, Hüten und Regenschirmen, überdimensionalen Brillen und Boas in Schale geworfen – je irrer, desto besser.
Der 2. Januar ist wirklich kein normaler Tag in Kapstadt. Die Coloureds, wie sich die aus der Vermischung von europäischen Einwanderern mit Einheimischen entstandene Bevölkerungsgruppe hier nennt, feiert das „Tweede Nuwe Jaar“ – das zweite Neujahr, zwei Tage nach dem offiziellen Jahreswechsel. Da wird von morgens früh bis abends spät getanzt, gesungen, geschauspielert, gelacht und geschäkert. „Die Parade ist ein wichtiger Teil der Geschichte der Stadt“, sagt Muneeb Gambeno, Direktor der Kaapse Klopse Karnival Association. „Deswegen erhalten wir sie bis heute am Leben. Nicht für die Touristen, auch wenn die natürlich willkommen sind. Sondern um unsere Kultur zu feiern.“
Ein Höllenspektakel

Hinter den Clowns und den Travestie-Darstellern mit ihren burlesken Einlagen folgen Tanzmariechen in Petticoats und Glanzstrumpfhosen. Dann fällt in schöner Regelmäßigkeit das komplette Geschirr einer Großküche vom Himmel. Verzeihung: Es spielen natürlich Blasmusik-Formationen. Und zwar mit allen zur Verfügung stehenden Pauken und Trompeten (und dazu Posaunen, Hörnern, Tuben, ein paar Banjos und natürlich allerlei Schellen und Schlaginstrumenten).
Die Gruppen Happy Boys, V&A und Good Hope haben Heimvorteil: Viele Mitglieder sind Kapmalaien oder Coloureds aus dem Bo-Kaap. Warum aber schwenken die Teilnehmer der Shoprite Pennsylvanians, die im Township Hanover Park ihre Fangemeinde haben, die Fahne der Bundesrepublik? Es liegt an den Farben: Sie kleiden sich schließlich komplett in Schwarz, Rot und Gold. Viele Dutzend Gruppen, 100.000 Zuschauer: Es ist ein Höllenspektakel.

Neujahr in Kapstadt: Urdeutsche Silvesterbräuche wie Bleigießen und „Dinner for One“ sind an der Südwestspitze Afrikas bislang nicht angekommen. Selbst jene „Schwalben“, die lieber unter der Sommersonne am Kap leben, als die kalten Wintermonate in Europa zu verbringen, verzichten bei Temperaturen um die 30 Grad auf Raclette. Viele Südafrikaner feiern ihr Neujahr in Kapstadt derweil wie alle anderen Feste: Mit Bubbly (wie man die nach der Champagner-Methode hergestellten Schaumweine nennt) für die Damen, Bier für die Herren – und mit einem vom Gastgeber zelebrierten „Braai“ für alle zusammen. Bei der lokalen Barbecue-Version kommt meist derart viel Fleisch und mit Koriander gewürzte Bauernwurst auf die Kohlen, dass niemand hungrig zu Bett gehen muss.
Wer an Silvester mehr Abwechslung sucht als bei einem Grillfest, macht sich auf in die Innenstadt. Der Traum, den Jahreswechsel auf dem Tafelberg zu erleben, bleibt für die meisten allerdings unerfüllt: Dafür muss man nämlich die ganze Nacht oben verbringen, bis am Neujahrstag die Seilbahn wieder fährt. Legendär sind aber auf der anderen Seite des Bergs die Konzerte im Botanischen Garten Kirstenbosch, wo man erst gemütlich picknickt, um dann ins neue Jahr zu tanzen. Die größte Party der Stadt steigt – nach zwei Jahren Corona-Zwangspause – wieder am Hafen auf dem Gelände der V&A Waterfront. Hier gibt es Live-Musik, Shows und Zirkuseinlagen, und am Ende ein großes öffentliches Feuerwerk.
Ursprung in der Kolonialzeit

Der 1. Januar ist dann ein Faulenzertag. Naturliebhaber gehen zu den Pinguinen am Boulders Beach, Hipster zieht es in die von polierten Felsen gesäumten Buchten von Clifton, alle anderen suchen sich ihren Sonnenplatz am Strand von Camps Bay. Zwar ist das Wasser des Atlantiks hier auch an heißen Tagen noch ziemlich frisch – die Antarktis ist eben nicht mehr weit. Doch abends ist die Stimmung dann einzigartig. Die Felsentürme der Zwölf Apostel leuchten im letzten Licht, vergoldet und wolkenbemützt. Vom Meer weht eine kühlende Brise, Wellen rauschen, Palmblätter flüstern. Tiefrot verabschiedet sich die Sonne über dem Meer. Sommernachtstraum statt Winterblues: Genau dann, wenn Eis und Schnee Deutschland im Griff haben, ist es am Kap am schönsten.
Am 2. Januar kommt in Südafrikas ältester Metropole dann alles zum Stillstand. Trillerpfeifen und Trompeten, Regenschirme und Rambazamba: Die Spielzüge der Cape Town Minstrels, die man auf Afrikaans Kaapse Klopse nennt, ziehen einmal quer durch die Innenstadt. Vom ehemals multi-ethnischen Viertel District Six, das die Apartheid-Regierung einst schleifen ließ, bis ins von Gentrifizierung bedrohte Bo-Kaap verläuft die Strecke der Parade.

Seinen Ursprung hat das Fest in der Kolonialzeit. „Nur an einem einzigen Tag im Jahr gab man den Sklaven die Freiheit, sich auszutoben – einen Tag, nachdem die Herren den Beginn des neuen Jahres gefeiert hatten“, erzählt Fagmie Solomons. Der ältere Herr ist in Südafrika eine Rugby-Legende und lebt mit seiner Familie noch immer im Bo-Kaap. Dass er bei der Gruppe D6 Entertainers mitläuft, ist Ehrensache: „Nach der Abschaffung der Sklaverei blieben unsere Vorfahren weiterhin abhängig. Für sie war Tweede Nuwe Jaar also immer ein Tag der Befreiung. Die Apartheid ist Geschichte, doch die dürfen wir nie vergessen.“
Der treibende Ghoema-Rhythmus, der vielen Liedern zugrunde liegt, stammt wohl ebenfalls aus jener dunklen Epoche. Wenn sich die Musiker heute nur in kleinen Schritten fortbewegen, hat das einen Grund: Sie imitieren die Sklaven, die mit den Ketten an den Füßen nur auf diese Weise marschieren konnten. Dass sich die Truppen der Kaapse Klopse heute so bunt herausputzen und exaltiert auftreten, ist dagegen eine Tradition aus dem späten 19. Jahrhundert.
Damals wurden in den USA die Minstrel Shows populär, bei denen die Arbeit der Sklaven auf den Plantagen inszeniert wurde. Stets singende, fröhliche Schwarze, übertrieben dargestellt von weißen Akteuren: Heute wären derart rassistische Stereotype tabu. Doch als einige Minstrel-Musiker aus den USA am Kap Station machten, wurden deren Shows vor Ort adaptiert. Bis heute tragen viele Gruppen amerikanische Namen. Der populärste Song ist „Daar kom die Alabama“ – das war der Name eines der Schiffe, mit denen die Amerikaner unterwegs waren.
Bis heute ist das Tweede Nuwe Jaar, das nun unter dem neuen Namen Cape Town Street Parade vermarktet wird, das wichtigste Fest des Jahres für die Bevölkerungsgruppe der Coloureds in der Kapregion. Zwar rümpfen manche in der Stadt die Nase, weil es immer wieder Streit gibt, wer die Parade organisieren darf, und weil in den Townships Drogen-Gangs mit manchen Truppen verbandelt sein sollen. Doch seit einmal Nelson Mandela bei einer Parade mitmarschierte, ist es quasi amtlich: Dieses närrische Volksfest gehört zum Erbe des neuen Südafrika. Wer unter die dicke Schminke blickt, stellt fest, dass inzwischen sogar ein paar Schwarze und Weiße Teilnehmer mitmachen – Regenbogenkultur pur.