Während der vorgezogenen Nationalversammlungswahlen in Frankreich ist der rechtsextremistische Rassemblement National auf dem Höhepunkt seiner Macht angelangt. Ihre Wurzeln schweigt die Partei tot. Die Saat von Marine Le Pen geht auf.
Medial ist eine mögliche Regierung des Rassemblement National bereits der Untergang des Abendlandes – für Frankreich mindestens, für Europa im Besonderen. Doch wäre es wirklich so schlimm? Das scheint offenbar laut Umfragen ein Drittel der Franzosen zu denken. Eine rechtsgerichtete Regierung im Frankreich de Gaulles, der gegen den Nationalsozialismus kämpfte? Eine Partei in Regierungsverantwortung, deren Gründer Jean-Marie Le Pen 1972 ehemalige SS-Offiziere und Ex-Mitglieder des nazitreuen Vichy-Regimes in Frankreich um sich geschart hatte? Von alledem ist im heutigen Rassemblement National (RN) offiziell nichts mehr zu hören und zu sehen. Zu verdanken ist dies Le Pens Tochter, Marine Le Pen, die ihren Vater schon vor Jahren kaltgestellt hat. Selbst zur 50-Jahr-Feier 2022 war der alte Le Pen nicht eingeladen, stattdessen gab es nur eine kurze Gesprächsveranstaltung, in der mit keinem Wort die Vergangenheit der Partei thematisiert wurde. Man zeigt sich lieber angemessen ruhig und bürgernah, Marine Le Pen staatstragend, ja präsidial, bescheiden. Ihre Biografie auf dem Kurznachrichtendienst X (vormals Twitter) bezeichnet sie lediglich als „scheidende Abgeordnete und Departementsrat für Pas de Calais“ und nicht als Fraktionsvorsitzende in der Nationalversammlung, dem französischen Parlament. Schließlich ist ihr Ziel, spätestens 2027 den amtierenden Emmanuel Macron im Élysée-Palast abzulösen. Ein „lächelnder Faschismus“ sollte der alte Front National sein; nun, unter der Führung von Marine Le Pen und dem charismatischen Schwiegersohntyp Jordan Bardella, ist der RN endlich dort angekommen.
Partei von Ex-SS-Offizieren
Die Tochter hat seit dem Bruch mit ihrem Vater 2015 selbst dem alten Parteikern Antisemitismus mehr und mehr abgeschworen. Heute nimmt sie an Pro-Israel-Demonstrationen teil. Schritte, die selbst von den gewichtigen moralischen Stimmen in Frankreich anerkannt werden. Kürzlich adelte selbst Serge Klarsfeld, der bekannteste jüdische Holocaust-Überlebende und Nazi-Jäger Frankreichs, die Partei: Wenn er zwischen Links und Rechts in Frankreich wählen müsste, so Klarsfeld in einem Fernsehinterview, er würde den Rassemblement National wählen. Denn Antisemitismus und Gewalt kommen aufgrund des Gaza-Krieges offenbar neuerdings verstärkt aus dem linken Lager, auch in Frankreich.
Was selbst Klarsfeld offenbar verkennt: der RN ist im Kern weiterhin eine rechtsextremistische Partei, fremdenfeindlich, antieuropäisch, nationalistisch, populistisch. Man müsse die Kaufkraft der Franzosen stärken, ist eines der beliebtesten Argumente des RN, dabei liegt sie deutlich über dem europäischen Durchschnitt. Die Stromrechnungen sollen sinken, die Mehrwertsteuer auf Energie auch. Ein Milliardenversprechen für ein Land, das hochverschuldet ist, mehr Wirtschaftsprogramm hat der RN derzeit auch nicht anzubieten. Stattdessen geht es vor allem gegen Migranten und Kriminelle, gegen Sozial- und Steuerbetrug, gegen mehr Souveränität für die EU, gegen die Dominanz von Deutschland in der Union, für Frankreich und bis vor Kurzem für eine neue Freundschaft mit Russland. Letzteres, festgehalten in einem Dokument auf der Webseite des RN, ist jedoch in den vergangenen Tagen klammheimlich verschwunden, gleiches gilt für die Position der Partei zur Nato – Frankreich sollte austreten – und zum Ukraine-Krieg, wo Parteichef Bardella mittlerweile etwas weniger harte Töne gegenüber dem kriegsgebeutelten Land anschlägt. Die Position zum „Frexit“, dem von Le Pen geforderten Austritt aus der EU, hat sich ebenfalls in Luft aufgelöst, der Slogan zog keine Wähler an. Dennoch geistert er weiterhin durch das Parteiprogramm: als angestrebte „europäische Reform“, die jeder Nation ihre Souveränität zurückgebe, die die EU ihnen aus ihrer Sicht genommen habe – ein zentraler Punkt auch in der Pro-Brexit-Propaganda. Bardella will gar das EU-Budget Frankreichs um zwei Milliarden Euro kürzen – als „Rabatt“, so Bardella in einem Interview, und damit auf Argumentationslinie Großbritanniens vor dem Brexit. Gedacht ist dieser „Rabatt“ jedoch wohl als Verhandlungsmasse, um die EU zu zwingen, die Mindestmehrwertsteuer auf Strom von 15 Prozent auf 5,5 Prozent zu senken.
Rechtsextremes Familienprojekt
Le Pen hat dennoch die Kanten innenpolitisch abgeschliffen, die Partei wählbarer gemacht, um die Stimmen im konservativen Lager zu gewinnen. Und das funktioniert: europäische Rechtsextremisten lernen voneinander, Giorgia Meloni in Italien von Marine Le Pen und umgekehrt. Auch der Rauswurf der deutschen AfD nach den zahlreichen Affären kurz vor der Europawahl aus der europäischen ID-Fraktion ist ein Baustein in Le Pens neuem Wählbarkeits-Image; gleiches gilt für die Berufung des telegenen Ex-Youtubers Bardella als Parteichef, der mithilfe von Tiktok und Tausender Selfies jugendliche Stimmen einsammelt.
Trotzdem bleibt der politische Rechtsextremismus in Frankreich vor allem ein kompliziertes Familienprojekt des Le-Pen-Clans. Marie-Caroline Le Pen, Marines ältere Schwester, kandidiert in den kommenden Wahlen für den RN im Departement Sarthe. Parteichef Jordan Bardella war laut französischer Regenbogenpresse bis Mai 2024 mit einer Tochter Marie-Caroline Le Pens liiert. Marine Le Pens Nichte Marion Maréchal, mit der sie sich einst überwarf, wechselte einst zu einer Kopie des zynischen Front National, der Partei „Reconquête“ von Eric Zemmour. Nun arbeitet sie nach eigener Aussage an einem Rechtsaußenbündnis und damit ebenfalls an einer Machtübernahme des RN im Parlament.
Ein Bündnis könnte die extreme Rechte in die günstigste politische Position seit Jahren bringen. Doch auch ohne einen Zusammenschluss könnte der RN die nötigen Sitze erringen, um mit Jordan Bardella den jüngsten Premierminister der EU zu stellen. Präsident Emmanuel Macron hat das Land in eine Krise manövriert. Denn das linke Lager, in dem nicht nur Sozialdemokraten, sondern auch Linksextreme miteinander verbündet sind, wird von Wählern wegen antisemitischer Äußerungen im Zuge des Gazakriegs als deutlich größere Gefahr für die Stabilität Frankreichs angesehen als eine konziliant auftretende extreme Rechte. Die Aufgabe Macrons ist es nun, das linke und rechte Lager zu spalten, um die moderaten Kräfte in der Mitte einzusammeln. Nach der ersten Runde der Parlamentswahl würde es an ein Wunder grenzen, würde ihm dies gelingen. Der RN spürt die Schwäche des zentristischen Präsidentenlagers und erhält Unterstützung von Eric Ciotti, dem schon abgesetzt geglaubten Chef der Republikaner. Die liberalen Kräfte Macrons geben sich noch nicht geschlagen. Sie sind jedoch angezählt.