Günter Pilz, emeritierter Mathematik-Professor aus Linz/Österreich, litt viele Jahrzehnte unter täglichen, zeitlich begrenzten Total-Lähmungen, die kein Arzt einer Erkrankung zuordnen konnte. Ein Interview über den Verlauf seiner Erkrankung, die langwierige Diagnose und sein heutiges Leben.
Herr Pilz, Sie leiden seit 65 Jahren an einem sehr seltenen Gendefekt, durch den zu viel Kalium aus dem Blut über die Ionenkanäle in die Zellen gelangt. In welchem Alter und bei welcher Gelegenheit haben Sie erstmals gemerkt, dass etwas nicht stimmt?
Im Alter von etwa 14 Jahren bemerkte ich eine ungewöhnliche Müdigkeit zwischen 16 und 19 Uhr; gerade zu einer Zeit, in der die meisten ein Aktivitätshoch haben.
Wie genau sahen Ihre leichteren Anfälle anfangs aus?
Zuerst bestanden diese nur aus Müdigkeit, dann verschlimmerten sich die Anfälle bis zum Alter von circa 24 Jahren, sodass ich in dieser Zeit kaum etwas tun konnte als Fernsehen oder einfache Texte lesen. Nach 19 Uhr löste sich alles in Wohlgefallen auf, und ab circa 20 Uhr konnte ich weiter Mathematik studieren (Uni Wien) oder Gewichte heben.
Gab es daneben noch andere Symptome und Dinge, die sie stark belastet haben?
Nein. Ich führte ein schönes Leben mit sehr viel Sport (Speerwerfen, Kugelstoßen, Gewichtheben). Mit 18 begann ich mein Studium, das mich enorm interessierte. Mit 22 hatte ich mein Doktorat, und mit 24 heiratete ich meine liebe Frau, mit der ich jetzt über 55 Jahre verheiratet bin. Einen Monat nach der Hochzeit fuhren wir in die USA, wo ich an der University of Arizona eine einjährige Stelle als Gastforscher antrat. Das war eine tolle Erfahrung – was will man mehr?
Inwiefern hatte sich Ihr Leben durch Ihre Erkrankung verändert?
Ich hatte nur die planbaren Einschränkungen zwischen 16 und 19 Uhr; das meiste ließ sich gut einrichten. Anfangs war ich selten bei Ärzten, zumal sich die Beschwerden nach dem Jahr in Arizona deutlich reduzierten. Sie kamen manchmal wieder und verschwanden dann.
Aber in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre kamen sie mit aller Gewalt. 1993, im Alter von 48, hatte ich meine erste Komplett-Lähmung. Sie begann in den Beinen und stieg bis zum Kopf auf. In den zwei bis drei Stunden zwischen 16 und 19 Uhr war ich nun leider bei Bewusstsein, konnte alles hören, aber nichts am Körper bewegen – nicht mal die Augen – und natürlich nicht sprechen, nicht einmal stöhnen oder so. Ab da startete meine Odyssee durch Arztpraxen und Spitäler. Der Tiefpunkt war 2006, als ich jeden Abend eine solche Komplett-Paralyse bekam. Meine größten Probleme betrafen fehlende Angst und Stress. Angst: Offenbar wurden durch Benzodiazepin-Ausschüttungen die meisten notwendigen Angstgefühle unterdrückt. Ich entdeckte mich, als ich zum Beispiel auf einem Nussbaum in acht Metern Höhe balancierte, ohne mich zu halten. Oder als ich in Tennessee auf einmal Lust bekam, auf den Grünstreifen zwischen den Fahrspuren zu wechseln. Außerdem merkte ich: je mehr Stress, umso besser (da der Stress durch Adrenalin die Müdigkeit verbessert). Daher nahm ich 2000 die Wahl zum Vizerektor für Forschung an unserer Uni an. Anfangs ging die Rechnung auf, aber 2006 holte mich die Realität durch besonders starke Attacken und durch einen Lymphdrüsenkrebs ein.
Sie haben in 65 Jahren des Leidens rund 180 Ärzte und Naturheiler aufgesucht. Wie haben diese Ihre Symptome gedeutet?
Ich bekam alle möglichen Diagnosen: etwa Parkinson, Nervenentzündung, Schlafstörungen, Ausschüttung von endogenen Benzodiazepinen im Gehirn (immerhin medizinisch nachgewiesen), Hormonstatus an einer Frauenklinik (!) und natürlich jede Menge an psychischen Störungen. Ab 2005 bekam ich sehr intensive (brutale) Akupunkturbehandlungen in Shanghai, welche die Häufigkeit der Totalparalysen verminderten.
Erst 2014/15 wurde durch eine eingehende Genanalyse als Ursache ein Gendefekt nachgewiesen – durch Prof. Schäfer in Marburg. Man muss zur Entlastung der Ärzte bedenken, dass erst ab circa 2010 und nach Abschluss des von Bill Clinton initiierten „Genome Projects“ so eine Genanalyse möglich war, und auch nur bei Kliniken mit einer großen Genetik-Abteilung. Etwa 40 der 180 genannten Ärzte waren aber „Naturheiler“, die nichts bewirkten als heiße Luft, wie: „Die Wahrheit müssen sie in sich selbst finden!“ Das Bizarrste war ein afrikanischer Medizinmann, den ich auf Anraten meines Hausarztes heimsuchte. Dieser platzierte mich in die Mitte eines großen Raumes, setzte sich eine schicke Indianer-Federbekleidung auf, zündete sich eine Pfeife an und tanzte circa fünfmal um mich herum. Bei jeder Umrundung blies er mir den Rauch ins Gesicht. Dann kam er zu mir und sagte mit einer universellen Handbewegung: „300 Dollar“. An alle, die gegen die Schulmedizin wettern: Da ist mir die Schulmedizin viel lieber als so eine Scharlatanerie!
Waren die Ärzte denn bemüht, der Ursache auf den Grund zu gehen?
Maximal ein Viertel der Ärzte war bemüht. Der Rest gab auf oder schob mich in die „psychische Ecke“.
Hatte sich durch die damaligen Arztbesuche etwas an Ihrem Leiden verbessert?
Bis 2005 nicht. Dann etwas. Ab 2014 aber massiv. Seither hatte ich keine einzige Total-Paralyse mehr. Die Teil-Lähmungen blieben und haben sich allmählich in eine starke Müdigkeit generalisiert. Nur die Zeiten 14:30 bis 18:30 Uhr und 23:00 bis 00:30 Uhr bleiben mir jetzt als halbwegs „leistungsfähige Zeiten“. Aber das ist kein Vergleich zu der Zeit, als ich ein „Teilzeit-Zombie“ war.
Wie genau kam es denn zur Diagnose, wie wurde Ihre seltene Erkrankung festgestellt?
Im Dezember 2013 sah meine Frau Herrn Prof. Schäfer vom Zentrum für seltene Erkrankungen in Marburg in der ARD und war sehr beeindruckt. Ich schrieb ihm am selben Abend eine E-Mail und bekam kurz vor Mitternacht die Antwort, dass ihn der Fall interessiere und ich ihm Unterlagen schicken solle. Das kommt uns heute noch wie ein Wunder vor. Nach einer ausführlichen Untersuchung 2014 bekam ich von Prof. Schäfer 2015 einen Anruf, dass er vermutete, dass bei mir eine genetische Störung in einem der Ionenkanäle zwischen dem Blut und den Zellen vorläge. Nun gibt es sehr viele solcher Kanäle (Magnesium-, Kalium-Kanäle, ...). Und es könne Jahre dauern, bis der Gendefekt gefunden würde. Das war mir zu lang, und ich begann, mir zu notieren, was ich an Magnesium, Kalium et cetera zu mir genommen hatte. Nach jeder Mahlzeit testete ich meine Kraft durch Drücken einer Badezimmerwaage, und eine Stunde später wiederholte ich den Test. Die Unterschiede betrugen bis zu plus/minus zehn Kilogramm. Als Mathematiker/Statistiker konnte ich daraus den Effekt herausrechnen. Schon nach fünf Wochen war mit 99,9 prozentiger Sicherheit klar: Die Störung kam vom Kalium, während Natrium mich munterer macht. Das macht auch Sinn, weil Kalium und Natrium in den Zellen „Gegenspieler“ sind, was ich erst später lernte. Alle anderen Substanzen erwiesen sich als irrelevant – dank der Statistik. Ich rief Prof. Schäfer an und teilte ihm mein Ergebnis mit. Er antwortete: „Dann wissen wir, wonach wir suchen müssen“, und wenige Wochen später hatten die Marburger den „Täter“: einen Gendefekt, den ich offenbar als einziger auf der Welt habe.
Gibt es noch Menschen, die von ähnlichen Störungen betroffen sind?
Es gibt eine Reihe anderer Kaliumkanal-Störungen, die zum Teil ähnliche, zum Teil konträre Effekte auslösen. Für diese „Hyperkalemic potassium paralysis“ (HKPP) gibt es Foren in den USA und in Deutschland. Natürlich beschränkt sich deren Tätigkeit auf Infos, Hinweise auf gute Ärzte, gegenseitiges Bedauern et cetera.
Wie war es für Sie, als endlich die Diagnose gestellt wurde – trat eine große Erleichterung ein?
Ja, es war enorm erleichternd, dass ich nach so vielen Jahren eine gesicherte Diagnose hatte! Nach so vielen Ärzten wollte ich keine weiteren aufsuchen. Denn das Argument „Hilft es nicht, schadet es auch nicht“ verlor seine Gültigkeit. Nach jedem vergeblichen Arztbesuch schwand meine Hoffnung auf eine Diagnose. Insbesondere die Versuche, mich auf die „Psycho-Schiene“ zu schieben, hatten mich sehr angewidert, weil ich wusste, dass die Ursache eine andere war.
Gibt es Medikamente, die Ihnen helfen, und müssen Sie auch auf Ihre Ernährung achten?
Ja, ich nehme kaliumausleitende Medikamente (Lasix, Resonium) und achte bei der Ernährung darauf, wenig Kalium und viel Natrium zu mir zu nehmen – also wenig Obst und Gemüse, aber viel Salz. Das ist nicht gerade die Ernährung, die Ärzte typischerweise empfehlen ...
Welche Tipps würden Sie anderen Betroffenen geben, bei denen Ärzte keine Ursache für ihre Symptome finden?
Wenn ich wüsste! Prof. Schäfer geht bald in den verdienten Ruhestand. Was ich wirklich empfehlen kann: die Organisation „ACHSE“ (beratung@achse-online.de), insbesondere Frau Heider. Was die Menschen bräuchten, wären viel mehr Ärzte vom Kaliber des Dr. Schäfer. Aber Ärzte dieser Sonderklasse sind sehr rar.