Am 13. Januar 2025 brach ein gigantischer Eisberg vom in die westantarktische Bellingshausensee hineinreichenden George-VI-Schelfeis ab. Dadurch wurde plötzlich der Meeresboden auf einer Fläche von 510 Quadratkilometern freigelegt und enthüllte dabei ein bis in Tiefen von 1.300 Metern reichendes, verblüffend artenreiches Ökosystem.

Es war ein glücklicher Zufall, dass das mit einer internationalen Wissenschaftler-Crew bemannte Forschungsschiff „R/V Falkor (too)“ des Schmidt Ocean Institute, einer in Kalifornien ansässigen gemeinnützigen Stiftung zur Unterstützung der Meeresforschung, am 13. Januar 2025 ausgerechnet in der Bellingshausensee vor der westantarktischen Küste unweit der Antarktischen Halbinsel unterwegs war. Wo das Team unter Leitung von Dr. Patricia Esquete vom Centre for Environmental and Marine Studies und des Department of Biology der portugiesischen Universität Aveiro eigentlich den Meeresboden und das Ökosystem an der Schnittstelle zwischen Eis und Meer untersuchen wollte. Doch nachdem die Forscher von der Ablösung eines später „A-84“ getauften gigantischen Eisbergs vom rund 24.000 Quadratkilometer großen George-VI-Schelfeis vor der Antarktischen Halbinsel erfahren hatten, wurde der Expeditionsplan spontan abgeändert. „Die Tatsache, dass wir genau zu dem Zeitpunkt dort waren, als sich dieser Eisberg vom Schelfeis löste, bot eine seltene wissenschaftliche Gelegenheit. Zufällige Entdeckungsmomente sind Teil der Faszination der Meeresforschung – sie ermöglichen es uns, als Erste die unberührte Schönheit unserer Welt zu erleben“, so Dr. Jyotika Virmani, Geschäftsführerin des 2009 gegründeten Schmidt Ocean Institute.
Durch Zufall zur Entdeckung
Das Team änderte kurzentschlossen seinen Kurs hin zum Ort des spektakulären Naturereignisses. „Am 25. Januar hatten wir den durch den Abbruch neu freigelegten Meeresboden erreicht. Wir waren die ersten Menschen, die dieses nie zugängliche Gebiet erkunden konnten. Der Eisberg hatte eine Fläche von 510 Quadratkilometern – etwa so groß wie Chicago – und legte eine ebenso große Meeresoberfläche frei“, so das Expeditionsmitglied Prof. Pedro Martínez Arbizu vom Wilhelmshavener Institut für biologische und geologische Meeresforschung Senckenberg am Meer. Bislang lagen der Wissenschaft nur sehr begrenzte Erkenntnisse über die Lebensräume unter den schwimmenden Eisschelfen der Antarktis vor. Erstmals im Jahr 2021 hatten Forscher des British Antarctic Survey über Anzeichen von Leben unter dem eine große Bucht des nordwestantarktischen Weddell-Meeres bedeckenden Filchner-Ronne-Schelfeis berichtet, dem nach dem Ross-Schelfeis zweitgrößten Schelfeisblock der Antarktis von der Größe Schwedens. Doch letztendlich konnten das nur Spekulationen bleiben, weil ja niemand bisher einen Blick unter die auf dem Ozean schwimmenden oder noch auf dem untermeerischen Boden aufliegenden Schelfeis-Platten werfen konnte, die von Gletschern, Eisströmen oder Eiskappen an Land gespeist werden und noch mit diesen verbunden sind.

Schelfeis muss laut Definition mindestens zwei Meter über den Meeresspiegel hinausragen, in der Regel ist das antarktische Schelfeis allerdings zwischen 200 und 1.000 Meter dick. Es spielt eine wesentliche Rolle bei der Verlangsamung des Eisflusses vom Festland in den Ozean, weil es wie eine Mauer fast die gesamte Küstenlinie der Antarktis umgibt. Schelfeis ist ständig im Fluss und bewegt sich vorwärts, verliert aber dabei stetig durch Schmelzen oder Kalben, wenn seine äußerste Front in den Ozean abbricht, an Masse und kann als Ausgleich bei optimalen Bedingungen vom Land her mit neuem Eis zur Wiederaufnahme seines Wachstums versorgt werden. Wenn das Schelfeis dünner wird oder sich gar dauerhaft schrumpfend zurückzieht, wie es zwei Studien aus dem Jahr 2023 für die Westantarktis nachgewiesen haben, kann das Eis vom Festland deutlich schneller in den Ozean fließen und damit den Anstieg des Meeresspiegels beschleunigen. Forscher der britischen Universität Leeds unter Federführung von Dr. Benjamin Davidson hatten für den Zeitraum zwischen 1991 und 2021 ein dramatisches Schrumpfen der Schelfeis-Flächen in der Antarktis von 44 Prozent registrieren können, wovon vor allem die Westantarktis aufgrund des erwärmten Meerwassers betroffen war, während das Volumen der meisten von einem kalten, der Küste vorgelagerten Wasserband geschützten Schelfeis-Flächen der Ostantarktis sogar gewachsen oder zumindest gleich geblieben war. Wissenschaftler der British Antarctic Survey hatten unter Federführung von Kaitlin Naughten in ihrer Studie die pessimistische Prognose aufgestellt, dass das Schelfeis in der Westantarktis nicht mehr zu retten sei und unaufhaltsam abschmelzen werde, woran selbst etwaige künftige ambitionierte Klimaschutzmaßnahmen nichts mehr ändern könnten.
Von der Schönheit überrascht
Obwohl das Team des Forschungsschiffs dieses Szenario im Hinterkopf gehabt haben dürfte, wollte es natürlich die einmalige Chance nutzen, ein unberührtes Gebiet zu erkunden, das aller Wahrscheinlichkeit nach jahrhundertelang unter dickem Eis verborgen gewesen war. Dabei setzte es über einen Zeitraum von acht Tagen einen fernsteuerbaren Tauchroboter namens „ROV SuBastian“ ein, mit dessen Hilfe das freigelegte Meeresgebiet bis in eine Tiefe von 1.300 Metern untersucht werden konnte, eine durch ständige Dunkelheit und Kälte gekennzeichnete Zone, in der das Schelfeis längst schwimmt und nicht mehr auf Grund aufliegt. Wobei die Wissenschaftler von der Fülle an Lebewesen und der unerwarteten Artenvielfalt trotz der latenten Gefahr, vom sich ständig bewegenden Eis zerquetscht zu werden, regelrecht verblüfft worden waren. „Wir waren überrascht von der erheblichen Biomasse und Biodiversität der Ökosysteme und sind uns sicher, dass es auf diesem nun zugänglichen Gebiet zahlreiche neue Arten zu entdeckten gibt“, so Prof. Pedro Martínez Arbizu. Ähnlich äußerte sich seine Kollegin Dr. Patricia Esquete: „Wir hatten nicht erwartet, ein so schönes, blühendes Ökosystem zu finden. Aufgrund der Größe der Tiere gehen wir davon aus, dass diese Gemeinschaften seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Hunderten von Jahren existieren.“ Die Kameras des Tauchroboters lieferten Bilder von großen Kaltwasserkorallen, Schwämmen, Seeanemonen, riesigen Seespinnen und Oktopussen oder Eisfischen. Wobei die Forscher keine sichere Erklärung darüber abgeben konnten, wie diese Tiere und ihr gesamter unwirtlicher Lebensraum mit ausreichend Nährstoffen versorgt werden konnten, weil Tiefsee-Ökosysteme normalerweise auf Nährstoffe angewiesen sind, die von der Meeresoberfläche langsam gen Ozeangrund abzusinken pflegen – was bei einer laut den Forschern schätzungsweise bis zu 150 Metern mächtigen Eisschicht ausgeschlossen gewesen sein dürfte. „Möglich ist es, dass die dortige Fauna über Meeresströmungen versorgt wird, welche ebenfalls Nährstoffe transportieren können. Der genaue Mechanismus, der diese Ökosysteme versorgt, ist jedoch noch nicht vollständig verstanden“, so Prof. Pedro Martínez Arbizu.

Neben der Sammlung biologischer und geologischer Proben analysierte das Team, dem Forscher aus Portugal, Großbritannien, Chile, Norwegen, Neuseeland, den Vereinigten Staaten und Deutschland angehörten, mithilfe von autonomen Unterwasserfahrzeugen namens „Glider“ auch die physikalischen und chemischen Eigenschaften des Ökosystems, insbesondere die Rolle des Schmelzwassers. Wobei das Team neben einer hohen biologischen Produktivität, die möglicherweise durch Nährelemente wie Eisen befördert worden war, erwartungsgemäß starke Schmelzwasserzuflüsse vom Schelfeis ins Meer konstatieren konnte: „Das George-VI-Schelfeis verliert schon seit Jahrzehnten Eis. Erste Beobachtungen stammen aus den 1940er-Jahren. Im Gegensatz zu vielen anderen Schelfeisen liegt es zwischen der Antarktischen Halbinsel und der Alexander-I.-Insel, was es bisher einigermaßen stabil gehalten hat. Trotzdem zieht es sich langsam zurück. Es ist zu befürchten, dass das schützende Meereis immer weiter schwindet und Abbrüche wie der von A-84 häufiger werden“, so Prof. Pedro Martínez Arbizu. „Der Eisverlust in der Antarktis ist ein bedeutender Faktor für den weltweiten Anstieg des Meeresspiegels. Unsere Arbeit ist entscheidend, um den langfristigen Kontext dieser jüngsten Veränderungen zu liefern und unsere Fähigkeit zur Prognose zukünftiger Entwicklungen zu verbessern – Vorhersagen, die als Grundlage für politische Maßnahmen dienen können. Wir werden zweifellos weitere wichtige Entdeckungen machen, während wir unsere Daten analysieren“, so der Co-Expeditionsleiter Dr. Sasha Montelli vom University College London. Der abgebrochene und von Forschern des U.S. National Ice Center vermessene Eisberg „A-84“, dessen Länge demnach rund 30 Kilometer und dessen Breite rund 17 Kilometer betrug, driftete übrigens in ungewöhnlich schnellem Tempo im Meer dahin. Schon nach einem Monat hatte er die Strecke von rund 250 Kilometern zurückgelegt, was in der Wissenschaft für Aufsehen gesorgt hatte, weil sich Eisgiganten dieser Größenordnung in der Regel viel langsamer fortzubewegen pflegen.
Ein Eisberg, so groß wie Chicago

Die Schreckensversion einer komplett eisfreien Antarktis steht angesichts der stabilen Schelfeis-Formationen im östlichen Teil des Kontinents Antarktika, der eineinhalbmal so groß ist wie Europa, in absehbarer Zeit wohl nicht zu befürchten. Doch Forscher des British Antarctic Survey haben jüngst die bislang detaillierteste Antarktika-Karte namens „Bedmap 3“ veröffentlicht, die dank komplexer Visualisierungen feinste Details eines eisfreien Kontinents aufzeigen kann. Für dieses spektakuläre Projekt wurden über 60 Jahre durch Flugzeuge, Satelliten, Schiffe oder Besatzungen von Hundeschlitten gesammelte Vermessungsdaten (insgesamt 82 Millionen Datenpunkte) ausgewertet. Nach Entfernung des nunmehr 27,17 Millionen Kubikmeter ausmachenden Gesamtvolumens des antarktischen Eises (inklusive Schelfeis), dessen Gesamtfläche sich (inklusive Schelfeis) den neuesten Angaben zufolge über 13,63 Millionen Quadratkilometer erstreckt, konnten bislang verborgene Gebirgszüge und tiefe Schluchten sichtbar gemacht werden. Dabei konnte ein bislang namenloser Canyon in Wilkes-Land mit einer Eisdicke von stolzen 4.757 Metern als neuer Rekordhalter ausgemacht werden. „Generell ist klar geworden, dass der antarktische Eisschild dicker ist, als bisher angenommen wurde, und ein größeres Volumen an Eis hat, das auf einem Felsbett unterhalb des Meeresspiegels ruht“, so die britischen Forscher. Die mittlere Dicke des antarktischen Eises inklusive des Schelfeises beträgt demnach 1.948 Meter, ohne Berücksichtigung des Schelfeises liegt der Wert sogar bei 2.148 Metern.