Longevity ist der Trend der Stunde. Lange leben und dabei lange gesund bleiben. Die Unternehmerin Kati Ernst hat sich auf den Weg gemacht in diese Königsklasse der Selbstoptimierung.

Das Leben von Kati Ernst änderte sich mit einem Moment. Kein Schicksalsschlag, kein Unfall, nur eine klare Erkenntnis: Ich bin Ende 30, spiele hier mit meinen Kindern auf dem Boden, und es fällt mir schwer, wieder aufzustehen. Dazu dieses Gefühl, als stolpere das Herz. So geht es nicht weiter, schwört sich Kati Ernst. An diesem Tag beschließt sie, mit dem Sport anzufangen. Und beginnt eine Reise zu einem gesünderen Leben, deren Ausmaße sie an diesem Nachmittag noch gar nicht fassen kann. Heute weiß Kati Ernst: Sie will gesund altern. Ihr Ziel: 110 Jahre.
Lange gab es für Kati Ernst hauptsächlich zwei Prioritäten: arbeiten und ihre drei Kinder aufziehen. Ihren Körper habe sie in dieser Zeit vernachlässigt. „Ich hätte es kaum geschafft, an die nächste Straßenecke zu laufen“, erzählt sie. Und so sei der erste Schritt der schwierigste gewesen, von null auf eins. Ende 2020 setzt sich Ernst, wie viele in der Corona-Zeit, auf ihren Heimtrainer, stellt alle Programme auf die niedrigste Stufe und legt los. Sie hat einen neuen Glaubenssatz: „I am an athlete.“ Und macht jeden Tag ein bisschen mehr.
Auch beim Sport bleibt sie die Unternehmerin, baut Analysen ein und lässt sich von Ärzten durchchecken. Ein Ergebnis: eine beginnende Fettleber. Kati Ernst weiß nun, dass sie noch mehr tun muss. Sie liest Bücher und Artikel, hört etwa den Podcast des Harvard-Genetik-Professors David Sinclair, der mit dem Buch „Das Ende des Alterns“ bekannt wurde. Sie sagt sich: „I can do hard things“, blickt auf ihr Leben und denkt: Das stimmt auch. Drei Kinder hat sie auf die Welt gebracht, 12 Jahre bei der Unternehmensberatung McKinsey gearbeitet, bevor sie mit Kristine Zeller ooia gründet und den in Deutschland führenden Anbieter für Periodenunterwäsche aufbaut. Zu Kardio- kommt Krafttraining. Kati Ernst nimmt Nahrungsergänzungsmittel und macht Intervallfasten. Dann kommen die Themen: Schlaf, Erholung, Saunagänge, Eisbäder hinzu – und immer häufiger trackt sie ihre Ergebnisse. Wie eine echte Athletin.
Einer der größten Märkte
Jetzt steckt Kati Ernst in dem, was sie Longevity-Rabbit-Hole nennt. Gefangen in dem Thema, das ihr Leben verändern soll. Longevity steht für Langlebigkeit, meint aber mehr als das Streben nach einem langen Leben. Es soll ein gesundes, langes Leben sein. Eine wichtige Unterscheidung. Denn die Lebenserwartung ist in Deutschland seit den 1950er-Jahren um durchschnittlich 24 Jahre gestiegen. Doch die letzten Jahre verbringen viele Menschen in Krankheit. Laut den Daten des „Global Burden of Disease“-Projekts sind das ganze acht bis zehn Jahre. Und genau da setzt die Longevity-Forschung an.
Viele sehen Longevity als einen der größten Wachstumsmärkte des 21. Jahrhunderts. Tech-Milliardäre wie Investor Peter Thiel und Amazon-Gründer Jeff Bezos investieren in Unternehmen wie Unity Biotechnology, das sich auf die Bekämpfung altersbedingter Krankheiten konzentriert. Google-Gründer Larry Page war maßgeblich an der Gründung von Calico beteiligt, das sich auf Grundlagenforschung zur Biologie des Alterns fokussiert. Und der US-amerikanische Unternehmer und Investor Bryan Johnson startete vor drei Jahren das Projekt „Blueprint“, bei dem er eine strenge Gesundheitsroutine verfolgt und diese öffentlich teilt. Pro Jahr lässt sich Johnson das mehrere Millionen Dollar kosten. Sein Ziel: Er will sein biologisches Alter auf 18 senken.
Bis vor wenigen Jahren war Longevity eher ein Thema für Nerds. Heute ist die Selbstoptimierung zum Lifestyle-Thema geworden. In Zürich hat kürzlich ein Longevity-Zentrum eröffnet, in Berlin bietet das Aiva-Institut seit Jahresbeginn neben plastischer Chirurgie viele Longevity-Behandlungen an – von der Kältekammer über Sauerstofftherapien bis hin zur Hormon-Analyse. Ärztinnen und Ärzte wie Dr. Simone Koch wollen nicht mehr länger nur Krankheiten heilen, sondern dafür sorgen, dass diese gar nicht erst entstehen.
Gene, Umwelt, Lebensstil
Koch behandelt in Berlin „VIP-Patientinnen auf ihrer Longevity-Reise“, wie sie es formuliert. Es sind Menschen, die monatlich mehrere hundert, manche Tausende Euro für ihre Gesundheit ausgeben. Wer zu Simone Koch kommt, der wird einmal durchleuchtet – und dabei betreut, gesund zu bleiben und vielleicht noch gesünder zu werden.
Aber was kann man wirklich für die Gesundheit machen? Ungefähr 20 bis 30 Prozent der Gesundheit werden von Genen bestimmt, haben Zwillingsstudien festgestellt. Der Rest setzt sich aus Umweltbedingungen, Lebensstil und vielen weiteren Faktoren wie Einkommen, Bildung, Gesundheitsversorgung zusammen. „Wer den Bauplan für ein kleines Haus hat, wird vielleicht keine Luxusvilla bauen können. Aber wir können ein wunderschönes Einfamilienhaus daraus machen“, sagt Simone Koch. Sie erklärt ihren Patienten die fünf Säulen der Longevity: Schlaf, Bewegung und Sport, personalisierte Ernährung, mentale Gesundheit und soziales Netzwerk. Wer nachts nicht schläft, zu viel Alkohol trinkt, Fast Food isst und sich kaum bewegt, der müsse sich zuerst an die Grundpfeiler halten. „Einen schlechten Lebensstil kann man nicht wegsupplementieren“, sagt Koch.
Koch sieht sich als Coachin, die ihre Patienten berät und motiviert. „Ich war irgendwann so frustriert von der Arbeit mit Kranken, weil ich immer dachte, man hätte so viel früher ansetzen müssen“, erklärt Koch. Die Ärztin erkrankte nach ihren Schwangerschaften an Hashimoto-Thyreoiditis, einer Autoimmunerkrankung, die zu einer chronisch entzündeten Schilddrüse führt. Auch das spornte sie an, mehr zu fragen: Wie kann ich als Ärztin Menschen beraten, damit diese möglichst gar nicht erst krank werden? Die Arbeit von Ärzten wie Simone Koch ist teuer. „Noch ist das ein Trend für die oberen 10.000“, sagt Koch.
Gesundheit ist immer auch eine Frage des Kontostandes. Dr. Elisabeth Langmann forscht am Institut für Ethik und Geschichte der Gesundheit in der Gesellschaft an der Universität Augsburg zu Ageismus, also Diskriminierung von älteren Menschen in der Gesundheitsversorgung. Sie sieht den individuellen Fokus bei Longevity kritisch. „Für viele Menschen wie Alleinerziehende, prekär Beschäftigte oder gesundheitlich nicht belastbare Menschen sind schon ausreichend Schlaf und eine gute Ernährung unerreichbarer Luxus“, sagt Langmann.
Wer „normal“ altert, sieht sich konfrontiert mit dem „guten Altern“ der anderen. Die Folgen können gravierend sein: In einer Studie der Universität Yale konnten Forschende belegen, dass Menschen mit einer positiveren Selbstwahrnehmung des Alterns 7,5 Jahre länger lebten als diejenigen mit weniger positiver Selbstwahrnehmung. Heißt: Das Streben der wenigen nach einem langen, gesunden Leben kann die scheinbar erreichbare Norm verschieben.

Medizinethikerin Langmann betont die Bedeutung der Forschung an Krankheitsprävention, die zu wichtigen Innovationen führe. „Aber wir müssen bei Longevity die Gefahr von Ageismus, von Diskriminierungstendenzen, im Blick behalten.“ Es sei die Aufgabe von Gesellschaft, Lebensräume so zu gestalten und bezahlbare oder sogar kostenlose Angebote zu schaffen, damit möglichst viele Menschen gesund altern können.
Kati Ernst ist zu einer Botschafterin ihres Lebensthemas geworden. Einmal in der Woche diskutiert sie mit ihrer ooia-Partnerin Kristine Zeller im Podcast „Lifestyle of Longevity“ ihren Weg und die neuesten Trends beim Thema Langlebigkeit. Die inzwischen vier Jahre Einsatz zeigen Wirkung: Aus einer beginnenden Fettleber ist die „Leber eines Kleinkindes“ geworden, sagte ihr Arzt. Das Herz zeigt keine Auffälligkeiten mehr. Und im vergangenen Jahr ist die Frau, die es anfangs kaum schaffte, einmal um den Block zu joggen, den Halbmarathon in Berlin gelaufen.
Der verstorbene Berliner Theatermacher René Pollesch sagte einmal in einem Interview: „In einer Gesellschaft, in der keiner mehr raucht und alle Fahrradhelme tragen, wollen alle so lange wie möglich leben. Der Liebende aber will kein langes Leben, er will das große Gefühl.“ Ist das gesunde Leben also Selbstzweck und langweilig, weil kein Platz für Ausschweifungen bleibt?
Für Kati Ernst ist die Antwort klar: „Was kann es Schöneres geben, als dass es einem gut geht? Ich kenne zum Beispiel das Gefühl von Müdigkeit nicht mehr. Dieses Gefühl, fit und ausgeschlafen durchs Leben zu gehen, ist für mich wie eine Droge, von der ich nicht genug bekommen kann.“