Die Ozeane sind zunehmend überfischt. Die Fischbestände können sich nicht mehr erholen, sodass teilweise ganze Arten vom Aussterben bedroht sind. Nicht nur die EU, sondern auch Deutschland plant mehr Schutzgebiete – auf Worte müssen allerdings auch Taten folgen.
Ein Fischkutter schippert über die Nordsee. Er zieht eine Baumkurre, eine Art Grundschleppnetz, hinter sich her, um damit Schollen und Seezungen zu fangen. Der Kurrbaum sorgt dafür, dass das Netz offengehalten wird. Dabei landet neben den Zielarten jede Menge Beifang in den Netzen. Mit dem Grundgeschirr dieser Netze wird der sandige Meeresboden, in dem sich Schollen und Seezungen eingegraben haben, aufgewühlt, um die Tiere aufzuscheuchen und ins Netz hineinzutreiben. Die treibstoffintensive Fangmethode steht in der Kritik und ist mittlerweile ein Auslaufmodell. Denn sie stört und/oder schädigt sogar empfindliche Bodenorganismen wie Muschelarten, Würmer oder Sandkorallen, die ihr zum Opfer fallen.
Immer mehr Fischbestände weltweit sind überfischt, das heißt, mehr Fische werden aus den Meeren entnommen als nachkommen können. Laut der Welternährungsorganisation FAO betrifft das 35 Prozent der kommerziell genutzten Fischbestände. 65 Prozent der Bestände gelten als maximal genutzt, soll heißen, eine größtmögliche Menge wird aus den Meeren abgefischt. Dazu muss man wissen, dass die maximale Menge jeder Fischart mit einem eigenen mathematischen Modell errechnet wird. „Die Bestandsgröße für nachhaltige Erträge in der Fischerei liegt zwischen 40 und 50 Prozent im Vergleich zu dem unbefischten Zustand“, sagt Philipp Kanstinger, Referent für Fischerei bei der Umweltorganisation WWF. Sinkt der Prozentwert unter ein Limit von etwa 20 Prozent, leiden darunter die Nachkommen der Fische. „Ab diesem Punkt verschlechtern sich die Chancen, dass der Fischbestand wieder wächst“, erklärt der WWF-Referent. Ausnahmen dieser Grundregel sind einzig kleinere Schwarmfische wie Heringe und Sprotten. Für diese Arten sollte ein Bestand von 70 Prozent in den Meeren belassen werden, da sie wichtige Stabilisatoren im Ökosystem sind. Auch Haie und Rochen sollten möglichst wenig befischt werden, damit sie lange leben können.
Im Mittelmeer sind Angaben des WWF zufolge fast alle Hai- und Rochenarten vom Aussterben bedroht. Auch global schwindet die Artenvielfalt dieser Meeresbewohner. Oft würden zwar diese Fische nicht direkt gefangen, doch laste auf ihnen auch der Fischereidruck, der auf Schwert- und Thunfische ausgeübt werde. „Insbesondere brauchen Haie und Rochen sehr lange bis sie ausgewachsen sind, und außerdem bekommen sie wenig Nachwuchs“, erzählt Philipp Kanstinger. Daher funktioniere ihre Biologie auch ganz anders als die der Knochenfische. Dennoch sei zu beobachten, dass sich die Lage im Mittelmeer durch Schutzgebiete und Management bessere. „In Europa wird immer noch etwa jeder zweite Fischbestand überfischt“, sagt Philipp Kanstinger. Dazu kommt, dass der Klimawandel als ein weiterer Stressfaktor den Fischen und Meeresorganismen zusetzt. In der Ostsee wurden die Dorsch- und Heringsbestände zuletzt überfischt und seien durch die Klimakrise kollabiert. „Das ist eine ökologische Katastrophe vor unserer Haustür“, sagt der Fischerei-Experte. Zumal die beiden Fischarten das Rückgrat der Ostseefischerei bildeten.
Hering konnte sich nie erholen
Vor 50 Jahren waren die Fischbestände in der westlichen Ostsee in einem „relativ guten Zustand“, sagt der Meeres- und Fischereibiologe Dr. Rainer Froese vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. In der westlichen Ostsee gab es Ende der 90er-Jahre noch einen großen Dorschbestand, wie Daten des Internationalen Rats für Meeresforschung belegen. Während die Biomasse der adulten Dorsche 1997, 1998 einen Höchststand erreichte, sank seitdem dieser Wert. Vergleicht man die Bestandsgröße Ende der 90er mit der aktuellen, so beträgt sie nur noch ein Zehntel davon. Der Grund dafür liegt in einer zu späten Anpassung der Fangquoten, erklärt Rainer Froese. „Die Politik hat die Fangmengen immer zu spät und zu wenig reduziert.“ In der Art und Weise, wie der Dorsch in der westlichen Ostsee über einen Zeitraum von 25 Jahren befischt wurde, sieht Rainer Froese „ein deutliches Zeichen von Missmanagement“. Die zu hohen Fänge bestanden außerdem überwiegend aus Jungfischen, die noch nicht ablaichen konnten, eben weil sie noch kein geschlechtsreifes Alter erreicht hatten. „Wenn man mehr rausnimmt als nachwächst, dann schrumpft der Bestand, und wenn man bereits die Jungfische wegfischt, dann fehlen bald die Laichfische.“ Dennoch habe man wider besseres Wissen diese Fischereipolitik Jahr für Jahr fortgesetzt, sagt Rainer Froese.
Eine ähnliche Entwicklung machte der Hering in der westlichen Ostsee durch. In den 90er-Jahren wurden noch 300.000 Tonnen des Fisches gefangen, wohingegen zuletzt die Menge auf 70.000 Tonnen sank, wie eine Grafik des Internationalen Rates für Meeresforschung zeigt. „In den 90ern hat man in einem Jahr zwei Drittel der Elterntiere weggefischt, natürlich ist dann der Nachwuchs eingebrochen“, berichtet Rainer Froese. Trotzdem habe man weiter überfischt, wodurch der Hering nie eine Chance gehabt habe sich zu erholen.
Weil es um die Bestände von Dorsch und Hering schlecht bestellt war und die deutsche Ostseefischerei in eine tiefe Krise geriet, ergriff das Bundeslandwirtschaftsministerium 2022 Maßnahmen, um die Betriebe finanziell zu unterstützen. Die EU verhängte für den westlichen Hering und den Dorsch ein Fangverbot, allerdings mit zahlreichen Ausnahmen, und es war weiterhin erlaubt, Hering und Dorsch zu verkaufen. Laut Rainer Froese können sich die Fischarten mit diesen Fängen nicht erholen. „Wären die erlaubten Fänge der vergangenen vier Jahre stattdessen im Wasser geblieben, dann hätten wir heute gesunde Bestände“, sagt Froese. Im Sinne eines ökosystembasierten Fischereimanagements dürften die Bestandsgrößen von Hering und Dorsch in der westlichen Ostsee aber nicht weniger als 50 Prozent ihrer natürlichen Größe betragen, damit zum Beispiel der Dorsch seine stabilisierende Funktion für das Meeresökosystem erfüllen kann. Unter dem Druck der Fischereiverbände, die „nur darauf aus sind, Jahr für Jahr die höchsten Fangmengen herauszuholen“, seien die politisch Verantwortlichen hierzulande allzu oft eingeknickt, kritisiert der Experte für marine Ökologie.
Fischerei-Reform nicht umgesetzt
Dass auch verantwortungsbewusste Fischerei betrieben werden kann, zeigt etwa das Beispiel des Blauflossen-Thunfischs im Mittelmeer. Wegen illegaler, unregulierter Fischerei war diese Art in den 90er-Jahren vollständig überfischt. Mittlerweile sei der für das Ökosystem wichtige Fisch durch „ein gutes Management“ wieder zurückgekommen, betont Kanstinger. „Wir brauchen ein vorsichtigeres Fischerei-Management, bessere Kontrollen und unbedingt gesunde Fischbestände, damit sie sich besser an den Klimawandel anpassen können“, fordert Philipp Kanstinger. Aktuell sei die EU weit davon entfernt, was seinerzeit in der Gemeinsamen Fischereipolitik festgelegt wurde. Bis 2020 sollte die Überfischung beendet sein und die Fangmengen sollten sich an den Empfehlungen des Internationalen Rats für Meeresforschung orientieren. Aber: Umgesetzt worden sei die Fischerei-Reform bisher nicht, bedauert Philipp Kanstinger.
Offenbar tut sich die Politik nicht schwer damit, das Problem als solches zu erkennen, sondern die entscheidenden Schritte zu tun, um die Überfischung der Ozeane zu stoppen. Auch die Grünen-EU-Abgeordnete Ska Keller bedauert, dass die dafür bis 2022 gesetzte Frist nicht eingehalten wurde. Die Politikerin gehört seit 2019 dem Fischereiausschuss des EU-Parlaments an. „Jahr für Jahr erleben wir, dass die EU-Ministerinnen und -Minister Fangquoten für die EU-Mitgliedsstaaten festlegen, die oberhalb der wissenschaftlichen Empfehlungen liegen“, sagt die 41-Jährige. Somit verpasse die EU die Chance, letztlich die Überfischung der Meere zu stoppen. Obwohl in einigen Meeren Fortschritte auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Fischerei gemacht worden seien, müssten immer noch „einige Lücken“ vor allem im Mittelmeer und im Schwarzen Meer geschlossen werden.
Die Grünen-Politikerin begrüßt einerseits, dass die Welthandelsorganisation WTO 2022 ein erstes globales Abkommen beschlossen hat durch das die Fischerei-Subventionen eingeschränkt werden. Auf der anderen Seite vermisst sie dabei ein „klares Verbot von Subventionen, die zu Überfischung beitragen“ und von Subventionen, die dazu beitragen den Klimawandel weiter zu verschärfen. Obwohl der Internationale Rat für Meeresforschung (ICES) die EU-Kommission und die EU-Mitgliedsstaaten zu Fischbeständen berät, hätten sich Rat und Kommission systematisch dagegen entschieden, sich an den wissenschaftlichen Empfehlungen des ICES zu orientieren.
„Schutzziel nicht nur auf dem Papier“
Damit sich die Fischbestände von der Überfischung erholen können, müssen der Grünen-Politikerin zufolge 30 Prozent der EU-Gewässer bis 2030 als Meeresschutzgebiete ausgewiesen werden, davon zehn Prozent als streng geschützte Gebiete. „Außerdem sollten wir zu nachhaltigeren Fischereimethoden übergehen, dazu gehört auch eine schrittweise Einstellung der Grundschleppnetzfischerei“, fordert Ska Keller.
Wenn das UN-Hochseeschutzabkommen durch die EU ratifiziert werde, würde dieser Schritt schnell dazu führen, dass Schutzgebiete ausgewiesen und „weitere Errungenschaften des BBNJ-Abkommens“ erreicht würden, davon ist Ska Keller überzeugt. „Eine Ratifizierung durch die erforderlichen mindestens 60 Staaten wird global ein Signal zum Schutz der Ozeane und der Lebensgrundlagen, die von gesunden Ozeanen abhängen, setzen“, sagt das Mitglied der Grünen/EFA-Fraktion im EU-Parlament. Die EU müsse darüber hinaus die Bedenken und Bedürfnisse der Verhandlungsgruppen des Globalen Südens berücksichtigen und ein zugängliches, transparentes und gerechtes Verfahren sicherstellen.
Die EU und Bundesregierung sehe Ska Keller insofern in einer Unterstützerrolle, wenn es darum gehe, den Ratifizierungsprozess des Abkommens voranzutreiben. „Es muss klar werden, dass das Schutzziel von 30 Prozent nicht nur auf dem Papier existiert, sondern in der Praxis.“ Je schneller die Ziele des BBNJ umgesetzt würden, desto schneller werde sie sich auf die Ozeane auswirken. Immerhin hat Deutschland unlängst als eines der ersten Länder das UN-Hochseeschutzabkommen unterzeichnet. Eine Grundlage für den Schutz der Weltmeere ist also gelegt. Aber es bleibt viel zu tun, um das Artensterben und den Verlust der Lebensräume aufzuhalten.