Chemnitz wird im kommenden Jahr Kulturhauptstadt Europas. Dennoch fürchtet die Chemnitzer Kulturszene um ihre Existenz. Denn wer sich politisch gegen rechts, sozial oder kulturell engagiert, bangt nicht nur um Unterstützung aus dem Rathaus, sondern auch im Landtag könnte die AfD bald eine große Rolle spielen.
Sommer im Chemnitzer Stadthallenpark: Rund um den plätschernden Brunnen hört man Sprachen aus aller Welt: Türkisch, Arabisch, Farsi und viele weitere. Junge Leute gehen spazieren, telefonieren, sitzen auf den Bänken, andere spielen Volleyball oder rauschen mit Skateboards über das Pflaster.
Viele Chemnitzer trauen diesem Frieden nicht. Einer der Passanten findet es „grundsätzlich gut“, dass Chemnitz Kulturhauptstadt Europas wird. Aber die Stadt leide doch unter „ganz anderen Problemen: Migration, Sauberkeit und Ordnung“. Chemnitz habe den Wettbewerb um den Kulturhauptstadt-Titel doch wegen der „ganz Rechten“ gewonnen. Tatsächlich versprachen die Chemnitzer in ihrer Bewerbung um den Kulturhauptstadt-Titel, sich der Neonazi-Gewalt in der Stadt anzunehmen und die Zivilgesellschaft zu stärken.
21 Fälle rassistischer Gewalt
Ende August 2018 hatte Chemnitz mit rechtsradikalen Ausschreitungen weltweit Schlagzeilen gemacht. Neonazis jagten Menschen durch die Straßen, die nicht ihrem Weltbild entsprachen. Der Auslöser: Kurz zuvor hatte ein Geflüchteter einen jungen Mann im Streit auf dem Stadtfest erstochen. Über diese inzwischen sogenannten „Vorkommnisse“ sprechen die meisten lieber nicht. Auf den ersten Blick ist es seitdem ruhiger geworden. 2023 zählte die Beobachtungsstelle RAA Sachsen in Chemnitz 21 Fälle rassistischer und rechts-motivierter Gewalt. 2018 waren es 80. Allerdings erfasst der RAA nur Gewalttaten, nicht aber Bedrohungen und Beleidigungen.
Der Sozialpädagoge André Löscher berät für den RAA in Chemnitz Opfer rechter Übergriffe. Seine Klienten wünschten sich vor allem „Gerechtigkeit“. Die Täter sollten verurteilt werden. Die Polizei nehme Anzeigen wegen rechtsextremistisch und rassistisch motivierter Gewalt heute ernster als früher, auch wenn es unter den Beamten weiterhin „rechte Netzwerke“ gebe. Den „Flaschenhals“ sieht der Berater bei Staatsanwaltschaften und Justiz. Es dauere zu lange, bis die Täter vor Gericht gestellt und verurteilt würden. Jenseits der gemeldeten Angriffe vermutet André Löscher „ein enormes Dunkelfeld“. Das gebe es, weil die Menschen sich an solche Dinge „gewöhnen und sie nicht mehr melden“. Viele sähen „keinen Gewinn mehr darin, solche Sachen zu melden oder anzuzeigen“.
In Chemnitz haben sich – auch wegen der günstigen Mieten und der vielen Gesinnungsgenossen in der Stadt – Neonazis, Identitäre und Rechtsextremisten aus ganz Deutschland angesiedelt. Gleichzeitig blüht eine bunte, lebendige Zivilgesellschaft, die dagegenhält. „Ich kenne keine Stadt, die eine so aktive Kunst- und Kulturszene hat“, freut sich Annika Reinike. Sie ist als Kuratorin des Museums Villa Esche nach Chemnitz gekommen. Vor allem beeindrucke sie, „wie viel Kultur hier passiert“. Angestellt ist Reineke bei den Kunstsammlungen Chemnitz, die mehrere Museen betreibt. Das Museum Gunzenhauser zum Beispiel beherbergt mehr als 3.000 Werke von 270 Künstlerinnen und Künstlern.
Gleich neben dem „Nischel“, dem drei Stockwerke hohen Karl-Marx-Kopf in der Innenstadt, betreiben die Kunstsammlungen und die Kulturhauptstadt Europas 2025 den Open Space: Gruppen und Initiativen können den Raum kostenlos für Lesungen, Ausstellungen, Gespräche und andere Kulturveranstaltungen nutzen. Mitarbeiterin Rebecca Dathe versteht den Open Space als Beitrag zur Stärkung von Demokratie und Toleranz in der Stadt.
Während an einem Freitagnachmittag immer mehr Besucherinnen zu einer feministischen Lesung strömen, wird das Trommeln vor der Tür lauter. Unter weiß-grünen Sachsen-Fahnen versammeln sich zumeist ältere Leute, aber auch kräftige junge Männer. Viele von ihnen tragen auf ihren muskelbepackten Armen einschlägige rechte Tattoos. Ein Redner wettert gegen die angebliche Überfremdung und Bedrohung durch Migranten, die die Regierung unkontrolliert ins Land lasse. Die „Freien Sachsen“ starten ihren wöchentlichen Zug durch die Innenstadt. „Keine westdeutschen Verhältnisse – Das ist unsere Stadt“ steht – kurz nach dem Messerattentat in Mannheim – auf dem Transparent, das sie vor sich hertragen. Der sächsische Verfassungsschutz stuft die ultrarechte Truppe als „neonazistische Gruppierung“ ein. Ihr Gründer und Frontmann Martin Kohlmann, ein eher bieder-bürgerlich wirkender Anwalt mit ergrauendem Vollbart, sitzt seit Jahren für die rechte Protestgruppe „Pro Chemnitz“ im Stadtrat. Die Internetseite „Rechte Orte in Sachsen“ listet sein Haus als Sitz einer „Nazi-Kanzlei“ mit engen Verbindungen nach Russland sowie zu neu-rechten Verlagen. Bei der Kommunalwahl holten die „Freien Sachsen“ im Verbund mit „Pro Chemnitz“ fünf Prozent der Stimmen.
Dort, wo Rechte auf Linke treffen
Mit den Ultra-Rechten und Neonazis hatte Rebecca Dathe bisher keinen größeren Ärger. Das verdankt sie auch dem Sicherheitsmann, der während der meisten ihrer Veranstaltungen vor der Tür steht.
Rechte und linke oder alternative Kulturen existieren in der Stadt mit 250.000 Einwohnern nebeneinander. In dem kleinen Park auf dem Lessingplatz im einstigen Arbeiterviertel Sonnenberg spielen die einschlägig bekannten Neonazis friedlich Tischtennis, während deutsche, türkische und arabische Mütter mit ihren Kindern den Spielplatz direkt daneben bevölkern. Ines Knöfel wohnt gleich um die Ecke. An der Technischen Universität Chemnitz studiert die 37-Jährige im Master Soziologie mit Schwerpunkt gesellschaftliche Konfliktbewältigung und Zusammenhalt. Für ein Forschungsprojekt der TU beobachtet sie das Leben auf dem Lessingplatz. Sie hat noch nicht erlebt, dass die jungen Neonazis „Migranten auf dem Lessingplatz angehen oder bepöbeln“. Die verstünden den Platz als ihr erweitertes Wohnzimmer, „in dem sie keinen Stress wollen“.
Köfel, selbst Mutter zweier Teenager, vermisst in der Stadt „Räume, wo sich Jugendliche wohl und als Teil der Stadtgesellschaft fühlen“. Den Bau einer Skater-Anlage habe der Stadtrat als zu teuer abgelehnt, die Förderung für Jugendprojekte gekürzt. Mit der AfD-Mehrheit im Rat wird es nicht besser. Köfel zitiert eine Umfrage. Darin sagte die Mehrheit der Jugendlichen, dass sie nicht in Chemnitz bleiben wolle. Auch Ines 14-jährige Tochter will weg. Sie habe Angst vor Gewalt unter Jugendlichen und „gangmäßigen Strukturen“.
Doch Chemnitz bietet immer noch relativ billige Wohnungen und leerstehende Fabriken – Gestaltungsräume, von denen Menschen in anderen Städten träumen. Auch Ines sieht die Möglichkeiten für Leute, die selbst etwas auf die Beine stellen wollen. „Wer zum Beispiel in Vereinen oder Kultur-Initiativen mit anpacken möchte, ist willkommen“, bestätigt die 19-jährige Emma, die bei der Kulturhauptstadt-Gesellschaft ihr freiwilliges soziales Jahr macht. Die Leute seien „unglaublich offen“.
Angst vor Gewalt unter Jugendlichen
Auch Linus, 17, hat seinen Weg in Chemnitz gefunden. „Hier geht so viel“, sagt der junge Mann, „man muss sich seinen Raum nur schaffen“. Neben der Schule organisiert er Ausstellungen und legt als DJ auf. Clubs gibt es reichlich in der Stadt. Ein Bandbüro bringt Musikerinnen und Musiker zusammen. Den leerstehenden Südbahnhof hat ein junger Mann gekauft, der ihn zur Event-Location mit Kneipe und Büros für zivilgesellschaftliche Initiativen wie der „junge Kulturhauptstadt“ umbaut. Diese hat im Juni für ihr Kulturhauptstadt-Jugendprogramm „enter“ sieben Millionen Euro von der Kulturstiftung des Bundes zugesagt bekommen.
Auch auf dem Sonnenberg entstehen weitere Freiräume für kreative Menschen. Der Unternehmer und Kultur-Mäzen Lars Fassmann kauft seit rund 15 Jahren alte Häuser und lässt sie sanieren. Viele der Wohnungen vermietet er günstig an Künstlerinnen und Künstler. Damit investiert er, wie er sagt, „in seinen Standort und seine Lebensqualität“. Sein neuestes Objekt: eine Gießerei von 1865, gleich hinter dem Hauptbahnhof. Der Unternehmer, der mehrere Kultur-Vereine mitgegründet hat, ist in Chemnitz durchaus umstritten. Manche werfen ihm Selbstherrlichkeit im Umgang mit den jungen Künstlerinnen und Künstlern vor, an die er seine Räume vermietet.
Doch sind es solche Macher-Typen und Visionäre, die die Stadt schon im 19. Jahrhundert vorangebracht haben. Damals war Chemnitz ein europäisches Zentrum der Industrialisierung. Robert Hartmann gründete hier eine der ersten Lokomotiven-Fabriken Deutschlands, obwohl die Stadt noch keinen Gleisanschluss hatte. August Horch begann Autos zu bauen, für die es noch kaum geeignete Straßen gab. Aus der Marke entstand Audi. Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung und Mehrheiten für eine als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei passen zu diesem Bild eigentlich so gar nicht.