Wenn ein neues Familienmitglied geboren wird, beginnt die schönste Zeit des Lebens. So sagt man es jedenfalls. Doch was, wenn diese Freude ausbleibt? Eine Wochenbettdepression ist nichts Seltenes – und dennoch tabuisiert.
Als Anna Held in den Wehen lag, wurde ihr Sohn gerade in die Notaufnahme eingeliefert. Die Geburt ihrer Tochter hatte gerade begonnen, doch ihre Gedanken waren woanders. Sie fühlte sich zerrissen. Zwischen der Sorge um ihr älteres Kind und der Ankunft des neuen. „Ich konnte mich auf gar nichts konzentrieren“, verrät sie. „Und als die Geburt vorbei war, war ich weder bei ihm noch bei ihr. Ich war einfach nicht da.“ Heute weiß Anna, dass dies die ersten klaren Symptome ihrer Wochenbettdepression waren.
Wochenbettdepression. Was viele nicht wissen: Etwa 18 bis 20 Prozent aller Mütter entwickeln nach der Geburt ihres Kindes eine behandlungsbedürftige Depression. Ein Thema, über das aber nur selten gesprochen wird. Noch seltener öffentlich. Dabei betrifft es nicht nur die betroffenen Frauen, sondern auch ihre Kinder, ihre Partnerschaften, ihre Familien. Der sogenannte Babyblues – hormonell bedingte Verstimmungen in den ersten Tagen nach der Geburt – ist vielen ein Begriff. Doch wenn die dunklen Gefühle länger als zwei Wochen anhalten, wenn Schuld, Angst, Schlaflosigkeit und Leere den Alltag bestimmen, ist das nicht mehr „nur eine Laune“. Es ist eine Krankheit. Und es braucht Hilfe.
Vanessa Z. erinnert sich noch gut an dieses Gefühl der Leere, als ihr Sohn geboren wurde. Ein Wunschkind – mitten in der Corona-Pandemie, einer Zeit, in der sich unser aller Leben ohnehin schon mächtig ändern sollte. Doch die Freude über das neue Familienmitglied blieb aus: „Ich funktionierte nur. Ich habe ihn gewickelt, mit der Flasche gefüttert. Aber da waren keine Gefühle“, erinnert sie sich zurück. Ihr Mann strahlte, sprach davon, wie grün die Wiesen seien, mitten im Januar. Sie selbst aber fühlte nichts. Kein Bonding, kein Glück. „Ich war wie eine Maschine, aber nicht wie ein Mensch“, sagt sie. Niemand klärte sie auf. Ihre Nachsorgehebamme verharmloste die Situation, von Wochenbettdepression war nie die Rede. Erst als sie zufällig beim Blättern durch Babymagazine auf einen Selbsttest und den Verein „Schatten und Licht“ stieß, fiel zum ersten Mal das Wort, das ihrer Empfindung einen Namen gab.

Sabine Surholt kennt solche Geschichten zu Genüge. Seit Jahrzehnten engagiert sie sich bei „Schatten und Licht“, ein Verein, der sich auf psychische Krisen rund um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett spezialisiert hat. Sie hat unzählige betroffene Mütter begleitet, beraten, gestärkt. „Meist ist es das Zusammenspiel verschiedener Faktoren“, erklärt sie. Hormonumstellungen, Schlafmangel, schwierige Geburten oder Schwangerschaften, die nicht wie erhofft verlaufen. Aber auch gesellschaftlicher Druck, das Idealbild der glücklichen Mutter, das aus Werbung und Social Media spricht. „Viele Frauen scheitern an diesem Bild. Sie glauben, nicht genug zu sein. Nicht gut genug zu fühlen. Nicht stark genug zu sein“, so Surholt. Und sie schweigen. Aus Scham, aus Angst vor Bewertung. Oder, wie Vanessa Z. es beschreibt, aus dem Gefühl heraus, dass sie eigentlich glücklich sein müssten – weil doch alles gut ist. „Dieser Satz ‚Hauptsache dem Kind geht’s gut‘, den kann ich nicht mehr hören“, sagt Vanessa heute. „Was ist mit den Eltern, der gesamten Familie?“
Dabei sind die Warnzeichen oft deutlich. Schuld- und Versagensgefühle, Angst, sich nicht ausreichend um das Kind kümmern zu können, Appetit- und Schlafstörungen, psychosomatische Beschwerden. Die Erkrankung ist behandelbar – aber dafür muss sie auch erkannt werden. In Großbritannien ist der sogenannte Edinburgh-Fragebogen fester Bestandteil der Nachsorge. In Deutschland dagegen hängt vieles vom Zufall ab. Ob die Hebamme geschult ist. Ob der Frauenarzt hinhört. Ob die Frau sich traut, auszusprechen, was in ihr vorgeht.
„Da wusste ich: Ich bin nicht allein. Ich bin nicht falsch“
Bei Anna war es ihre Hebamme, die sie ernst nahm und zum Anruf beim Frauenarzt überredete. „Ich hatte Glück“, sagt Anna. In der Nürnberger Tagesklinik fand sie einen Ort, an dem sie sich nicht erklären musste. Dort, wo andere Mütter mit ähnlichen Gefühlen saßen, fiel der Druck von der jungen Mutter ab. „Da wusste ich: Ich bin nicht allein. Ich bin nicht falsch.“ In Gruppensitzungen, Einzelgesprächen und Ergotherapie, aber auch im Zusammensein mit anderen Familien in einer ähnlichen Situation, lernte sie, ihre Tochter anzunehmen und sich selbst zu spüren. „Ich habe dort die Verbindung zu meinem Kind zurückgewonnen“, sagt sie.
Auch Vanessa Z. fand Hilfe – in Form einer ambulanten Gesprächstherapie. Es dauerte, aber sie lernte, das Erlebte zu verarbeiten. Auch der erste Geburtstag ihres Sohnes, den sie nur im kleinen Kreis feierte, war Teil dieser Verarbeitung. Heute kann sie mit ihrem Kind lachen und feiern. Doch die Erfahrung hat Spuren hinterlassen: „Ich würde mir wünschen, ich könnte mir ein zweites Kind wünschen“, sagt sie. „Aber ich weiß, was da alles wieder hochkommen könnte. Und das ist zu viel.“
Sabine Surholt kennt diese Zweifel. Und sie weiß auch um die Versorgungsprobleme in Deutschland. Vor der Pandemie gab es über 100 Mutter-Kind-Einheiten an Kliniken. Heute sind es nur noch etwa 60. Und während in Ländern wie England flächendeckend Mutter-Kind-Einheiten existieren, sei Deutschland in dieser Hinsicht „ein Entwicklungsland“, sagt sie. Das führt dazu, dass Mütter, die eigentlich stationär behandelt werden müssten, oft zu Hause bleiben. Allein. Oder dass andere einen stationären Klinikaufenthalt ohne ihr Kind antreten müssen. Ein zusätzlicher Schmerz.
Ein weiterer Grund für die niedrigschwelligen Angebote von „Schatten und Licht“. Neben Telefonberatung oder Selbsthilfegruppen vor Ort hilft der Verein auch bei der Vermittlung zu entsprechenden Fachleuten und Therapiestätten oder stellt Informationen rund um das Thema bereit. Ehrenamtlich, kostenfrei – und größtenteils getragen von Frauen, die selbst einmal dort waren, wo andere gerade stehen. Auch Anna Held ist heute eine dieser Beraterinnen. Sie leitet sogar eine Selbsthilfegruppe für Betroffene mit Angst- und Zwangsstörungen mit. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so zurückkomme“, sagt sie. „Aber ich bin heute stabiler als zuvor.“ Auch, weil sie offen mit ihrer Krankheit umgehen kann. „Ich mache das, weil ich nicht will, dass diese Krankheit stigmatisiert oder tabuisiert wird“, verrät sie.
Vielleicht ist es das, was bleibt: Dass aus einer Krise auch Kraft entstehen kann. Dass es einen Weg zurück gibt – in die Verbindung zum Kind, zum Partner, zu sich selbst. Und dass kein Mensch diesen Weg allein gehen muss.