Der britische Filmemacher Ridley Scott hat sich mit dem monumentalen Biopic „Napoleon“ wieder einmal selbst übertroffen. Mit heroischem Pathos, aber auch in intimen Momenten, zeigt er den Aufstieg und Fall des korsischen Kriegsherren, der den Lauf der Welt für immer verändert hat.
Schon der Auftakt ist furios: Die französische Königin Marie-Antoinette wird zum Schafott auf der Place de la Concorde geführt und guillotiniert. Der Kopf ist ab, der Pöbel grölt. Der Soldat Napoleon Bonaparte (Joaquin Phoenix), der sich unter die Schaulustigen gemischt hat, quittiert die Enthauptung mit einem spöttischen Grinsen und überlegt, was er wohl zu Mittag essen könnte. Wir schreiben das Jahr 1793. Napoleon begrüßt die Französische Revolution, ist aber von den damit einhergehenden blutigen Ausschreitungen angewidert. Er freundet sich schnell mit den Jakobinern an, den neuen Machthabern der Republik, die nichts mehr fürchten als die Rache der Royalisten – oder dass die Engländer Frankreich besetzen könnten. Die südfranzösische Hafenstadt Toulon haben sie schon in ihre Gewalt gebracht. Als Kommandant der Artillerie bekommt Napoleon den Auftrag, Toulon zu befreien. Mit großem militärischem Geschick bombt er nicht nur die Engländer aus der Festung, sondern versenkt auch noch alle im Hafen liegenden britischen Kriegsschiffe.
Psychologisch fein austariert
Den Sturm auf die Stadt und ihre Befreiung filmt Ridley Scott aus spektakulären Perspektiven, manchmal mit acht Kameras gleichzeitig, was seit „Gladiator“ so etwas wie sein Markenzeichen geworden ist. Die epische Wucht der Effekte ist auch hier atemberaubend und zieht einen sofort mitten ins Kampfgetümmel hinein. Außerdem lernen wir bei dieser Schlacht Napoleon kennen – als selbstherrlichen und von seinem militärischen Geschick total überzeugten Machtmenschen. Nach seiner triumphalen Rückkehr nach Paris wird er beim ersten Zusammentreffen mit Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby), seiner späteren Frau, mit stolzgeschwellter Brust sagen: „Ich habe uns zum Sieg in Toulon geführt“, was die verwitwete Aristokratin eher amüsiert als bewundernd zur Kenntnis nimmt.
In vielen knapp gezeichneten, aber psychologisch fein austarierten Episoden verwebt Ridley Scott nun den kometenhaften Aufstieg Napoleons als erfolgreicher Feldherr mit der schicksalhaften Beziehung eines Mannes, der sich unsterblich in die sinnlich-charismatische Joséphine verliebt hat. Spektakuläre Schlachtszenen, in denen Napoleon seine Armee von einem Sieg zum nächsten führt, wechseln mit intimen Liebesbekenntnissen Napoleons an seine Joséphine, der er von der Front glühende Liebesbriefe schreibt. „Das Interessante an Napoleon ist, dass er nach außen so aggressiv wirkte und zu allem fähig schien, aber in einem Bereich verletzbar war – bei seiner Frau“, meint Ridley Scott und fährt fort: „Sie waren manchmal fast kindlich in ihrer Sentimentalität und Sexualität. Er war ein Mann mit gespaltener Persönlichkeit.“
Diese äußerst komplizierte Beziehung zwischen den beiden ist der Dreh- und Angelpunkt des Films. Die Antwort auf die Frage, warum Napoleon und Joséphine eigentlich so aneinander hängen, wird nie wirklich erschöpfend beantwortet. Aber genau das macht den Reiz des Films aus. Warum stimmt Napoleon ihr kleinlaut zu, wenn sie sagt; „Du bist nur ein armseliger Wüstling, der nichts ist ohne mich!“? Warum lässt er sich von ihr scheiden? Weil sie ihm keinen Stammhalter schenken kann? Dabei liebt er sie doch immer noch über alle Maßen. Natürlich lässt uns Ridley Scott auch an den wichtigsten politischen Ereignissen teilhaben. So an Napoleons Staatsstreich, seiner Krönung zum Kaiser, an diversen Schlachten, wie der bei Austerlitz, die an Dramatik kaum zu überbieten ist. Am Russlandfeldzug, an Napoleons Verbannung auf Elba, an seiner glorreichen Rückkehr nach Frankreich, natürlich an Waterloo und an Napoleons Ende im Exil auf St. Helena.
Wohldosierte Ironie
Ein absoluter Gewinn für den Film ist Joaquin Phoenix als Napoleon. Ihm gelingt es scheinbar mühelos, den visionären Taktiker und übermächtigen Feldherren, der das Kriegshandwerk wie kein Zweiter beherrscht, mit Verve und Contenance darzustellen. Und nur sehr selten lässt er Napoleons Ruchlosigkeit und Hybris aufblitzen. Dafür aber äußerst effektiv. Dann wieder ist er der innerlich zerrissene Mann, der sich so sehr nach Joséphines Liebe sehnt. Napoleon wird also nicht etwa heroisch verklärt, sondern vermenschlicht. Und das allzu Menschliche an Napoleon zeigt Ridley Scott ebenfalls mit wohldosierter Ironie. Als er zum Beispiel drauf anspielt, dass Napoleon ja bekanntlich nicht sehr groß gewesen ist. Während des Ägyptenfeldzuges steht Napoleon vor einem an die Wand gelehnten, geöffneten Sarkophag. Die Mumie darin ist einen guten Kopf größer als er. Um mit ihr auf Augenhöhe zu kommen, muss er erst einmal auf einen Schemel steigen. Oder als Napoleon sich als gekrönter Kaiser auf den Thron setzt und herumfliegende Tauben ihm aufs prachtvolle Gewand koten.
„Napoleon“ ist mit seiner Laufzeit von zweieinhalb Stunden keine Minute zu lang. Im Gegenteil. Man wünscht sich sogar, der Regisseur wäre da und dort vielleicht noch weiter in die Tiefe gegangen, um die Geschichte noch stimmiger, noch runder zu machen. Diesem Wunsch wird, laut Ridley Scott, schon bald entsprochen: Er plant nämlich bereits einen viereinhalbstündigen Director’s Cut. Bis es soweit ist, gehört „Napoleon“ sicher zu den Must-See-Filmen des Jahres.