Bevor Sintra Martins ihre erste Kollektion präsentierte, wurde sie zu einem Liebling von Generation-Z-Stars wie Slayyyter oder Olivia Rodrigo. Mittlerweile hat sie ihr Label Saint Sintra Richtung Prêt-à-Porter erweitert.
Venice Beach in Los Angeles mit seinem schier endlos langen Sandstrand ist sicherlich gar nicht so schlecht. Dort wuchs Sintra Martins als Tochter eines portugiesischen Vaters und einer amerikanischen Mutter auf und erhielt ihren ungewöhnlichen Vornamen nach einer Kleinstadt in der Nähe von Lissabon. Aber nach dem Abschluss der Highschool, in der sie sich schwerpunktmäßig mit den Themen Theater, Tanz und klassische Oper beschäftigte und nebenbei in einem Kostümladen jobbte sowie am Morgan Community Theatre bei der Kostümauswahl mitwirkte, verschlug es die lebenslustige junge Frau 2014 nach New York City. Für die musisch interessierte Kalifornierin konnte im Big Apple eigentlich nur das in Manhattan angesiedelte Künstlerviertel Green Village infrage kommen. Sie schrieb sich an der renommierten New School ein, denn diese Universität hielt ein breites, fächerübergreifendes und verschiedenste Disziplinen verquickendes Angebot bereit.
Schon früh eigene Entwürfe
In ihren ersten beiden Jahren wandte sie sich am integrierten Eugene Lang College of Liberal Arts vor allem den Medienwissenschaften zu, belegte aber auch Kurse in Soziologie, Anthropologie, Literatur und Musik. Daneben entwickelte sie sich in ihrer Freizeit eigenem Bekunden zufolge zu einen Club-Kid, das sich für den glamourös-auffälligen Auftritt in den langen Party-Nächten eigene Klamotten und Styles entwarf. Dabei entdeckte sie ihr Faible für praktisches, handfestes Arbeiten, das sie bislang in ihrem eher theoretischen Studium vermisst hatte. Folgerichtig wechselte sie 2016 innerhalb der New School zur Parsons School of Design, um sich fortan mit der Mode zu beschäftigen. Während der folgenden vier Jahre bis zu ihrem Bachelor of Fine Arts-Abschluss 2020 absolvierte sie Praktika beim US-Kult-Designer Thom Browne und bei dem hierzulande noch nicht so bekannten, aber für seine Handwerkskunst in Richtung Demi-Couture gerühmten Designer Jackson Wiederhoeft. Wie Sintra Martins hatte er seine Ausbildung an der Parsons durchlaufen und wurde dort 2016 zum „Women’s Designer of the Year“ gekürt. Damit nicht genug, tauchte Sintra Martins auch noch ganz tief ins Modearchiv der Parsons School of Design ein, wo bis zu 4.000 Pieces aus der Modegeschichte bis in die 1760er-Jahre zurückreichend aufbewahrt werden.
Beim lustvollen Betrachten der Paradestücke dürfte sie wohl auch ihre Vorliebe für jegliche ornamentale Details wie Rüschen, Schleifen, Bänder, Pailletten oder Spitze entwickelt haben, die ihrer Meinung nach viel zu lange als zu mädchenhaft abgetan wurden und die sie daher durch moderne Verwandlung als Zeichen einer „maskulinen Weiblichkeit, einer aggressiven Weiblichkeit“ zu etwas unbestreitbar Kraftvollem machen wollte. „Ich liebe alles, was magisch und funkelnd ist“, so Martins, „je fantastischer, desto realer ist es für mich.“ Gleiches gilt für Martins Rückbesinnung auf Miederwaren generell und auf Korsett und Petticoat im Besonderen. Denn das Einschnürende möchte sie in hyper-mädchenhafter Umsetzung einsetzen, um Weiblichkeit zur Schau zu stellen und den Unterröcken zu einem Revival verhelfen. „Ich bin der Meinung“, so Martins, „dass es eine der enttäuschendsten Entwicklungen des 21. Jahrhunderts ist, dass wir Petticoats in der Mode verloren haben.“
Petticoat-Liebhaberin
Da sie während ihrer Praktika als Rookie keine Chance erhielt, selbst Klamotten zu designen, begann sie, die jeweiligen Kundennetzwerke geschickt zu nutzen, indem sie Aufträge für Sonderanfertigungen selbstständig annahm. Dies sollte sich schon bald zu einem lukrativen Geschäftsmodell entwickeln. Wegen der Corona-Pandemie fielen die sonst üblichen Festivitäten zum Ende des Studiums mit öffentlicher Präsentation der Abschluss-Kollektion und für Label-Newcomer ungemein hilfreichen Networking-Veranstaltungen ins Wasser. Daher mietete sich Sintra Martins in Brooklyn ein preiswertes, 300 Quadratmeter großes Studio, „ein großer, fensterloser Raum ohne Belüftung“, so Martins, um dort im Juli 2020 ihre Marke Saint Sintra zu gründen. In aller Ruhe wollte sie dort ihre Parsons-Abschlussarbeit zur ersten eigenen Modekollektion umgestalten. Letztendlich sollte es aber ganz anders kommen: Offenbar hatte Mundpropaganda dafür gesorgt, dass plötzlich Stylisten heimischer Stars und Sternchen der Generation Z oder die Promis selbst an die Studio-Tür anklopften – mit der Bitte um maßgeschneiderte Unikate. Denn: Haute Couture gab es vergleichsweise preiswert praktisch vor der Haustür und Reisen in die europäischen Fashion-Metropolen waren pandemiebedingt nicht möglich.
Den Anfang machte Catherine Slater, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Slayyyter, die für das Cover-Foto ihres Debüt-Albums „Troubled Paradise“ maßgeschneidertes Vichy-Karo bestellte. Kurze Zeit später stand Youtube-Megastar Emma Chamberlain auf der Matte und ließ sich einen Leder-Minirock auf die Haut zaubern. Es folgte „Euphoria“-Protagonistin Sydney Sweeney mit ihrem Wunsch nach einem rosafarbenen Samtkorsett. Und spätestens seit dem Auftauchen von Miley Cyrus und Olivia Rodrigo, dem gefeierten Musik-Idol der Gen Z, das sich für sein Y2K-lastiges Musikvideo „Brutal“ in Saint-Sintra-Klamotten (einem karierten Röhrenkleid und einem Faltenrock) präsentierte, gab es kein Halten mehr. Zumal auch noch weitere Stars wie Tinashe, Azealia Banks, Kali Uchis oder Kim Petras sowie die Indie-Pop-Künstlerinnen von Japanese Breakfast bei Martins vorstellig wurden.
Sintra-Mode auf Slayyyter-Cover
„Das Kaliber der Promis wurde immer größer“, so Martins. „An diesem Punkt begann ich mit der konkreten Planung meiner Kollektion. Es fühlte sich an, als ob meine Flügel mit etwas zusätzlichem Wind angehoben worden wären, sodass ich in das unbekannte Terrain springen konnte, um meine eigene Marke offizieller zu gründen.“ Dabei nahm sich Sintra Martins viel vor, denn ihr Label-Konzept sollte so etwas wie die Quadratur des Kreises sein. Sie wollte einerseits eine Prêt-à-Porter-Linie aufbauen und gleichzeitig auch noch Haute-Couture-Maßanfertigungen auf Bestellung bewerkstelligen, „weil einige der Stücke aufgrund der Komplexität des Designs“ gar nicht in Masse hergestellt werden konnten. „Meine Hoffnung ist es, ein paar Privatkunden und eine Konfektionslinie unter einen Hut zu bringen.“ Das sollte natürlich nicht zu schaffen sein, wie Martins spätestens 2022 einsehen musste. Doch zunächst einmal musste sie ihre Herbstkollektion 2021 fertigstellen. Ein recht verspieltes und mit sechs Pieces auch ziemlich winziges Etwas, das sich Inspirationen aus der Welt der Clownerie und einem „Acid-Trip zu Barnum & Bailey“, einem bekannten US-amerikanischen Zirkusunternehmen, auf die Fahne schrieb. Besonders originell war ein mit Kristallen und Pailletten besticktes Polka-Dot-Korsett samt riesiger architektonischer Rückenschleife, ein gestreifter Frack aus roter Seide mit Puffärmeln sowie ein weißes trägerloses Minikleid aus weißem Tüll mit All-over-Rüschenstickerei.
Mit der deutlichen Erweiterung ihrer erstmals bei der New York Fashion Week präsentierten Kollektion für den Sommer 2022 waren die Sonderanfertigungen auch schon fast vorbei. Die Kollektion stand unter dem Motto „The Color of Things“, inspiriert vom gleichnamigen Kinderbuch. Hier spielten leuchtende Farben eine wesentliche Rolle, und die 24-jährige Designerin gestaltete ihre Pieces im Unterschied zu ihren Starterlooks ganz bewusst als tragbar und alltagstauglich. Es handelte sich dabei um eine ziemlich frivole jugendliche Retro-Future-Technicolor-Pop-Dystopie, aufgeladen mit reichlich Glamour. Die Location namens „The Stranger“ in Midtown Manhattan war superkitschig gehalten und ähnelte einem tropischen Puppenhaus-Ensemble mit Kunstrasen, Wasserfall, einer Elefantenrüssel-In-stallation, einer funkelnden Discokugel, Liegestühlen für das Publikum und einer überdimensionalen David-Kopie von Michelangelo. Musikalisch wurde das Ganze untermalt durch Songs von Blondie wie „The tide is high“ oder Gwen Stefanis „What you waiting for“.
Martins definierte ihre Kollektion, für deren Komposition sie auch die monatelange Beschäftigung mit Zeichentrickfilmen wie „The Pink Panther“, „Star Trek“, der Artus-Sage und dem „Herr der Ringe“-Universum verantwortlich machte, als eine Mixtur von „Schneiderkunst, innovativen Silhouetten und romantischer Sensibilität“. Es gab eine Y2K-Variante des Petticoats, ein rosafarbenes Korsettkleid mit Tüllrock und winzigen Schleifen, nahezu völlig transparente, neonfarbene Kleider und Trainingsanzüge, die mit Strass-Steinen in Gestalt von Emoji-Glitzern besetzt sind. Außerdem hauchzarte, kaum die Haut verhüllende Perlenkleider – beispielsweise ein babyblaues Bodycon-Piece oder ein ausgeschnittener Mini – sowie Federbodys und -kleider, die Josephine Baker alle Ehre gemacht hätten. Dazu einige Schulmädchen-ähnliche Looks in Pink oder Schwarz, kombiniert mit Mary Janes und zerrissenen Strumpfhosen.
Die Sommerkollektion 2022, die nun auch von renommierten Fachhändlern wie Dover Street Market oder Ssense vertrieben und wieder in einem New Yorker Nachtclub namens „The Palace“ vorgestellt wurde, war dann etwas weniger expressiv-feminin ausgerichtet – bestes Beispiel die Miniröcke mit maskulinem Finish – und bot eine Art gepanzerte Damenmode. Als Martins sich für einen längeren Besuch in Florenz aufhielt, war sie von mittelalterlichen Rüstungen fasziniert, und diese versuchte sie in zeitgemäße Schneiderei umzusetzen. Beispielsweise bei einer Jacke aus Kamel-Wolle mit geknöpften Einsätzen, bei Baumwoll-Tartan-Jacken oder bei einem Kavalleriemantel mit ritterlicher Armgestaltung. Wie überhaupt neue Materialien wie Mohair-Karo, Kammgarn-Kalvarienberg-Twill oder Shetland-Tweed auftauchten. Und manche Teile wiesen deutlich mehr Volumen auf, was durch übergroße Schleifen zusätzlich akzentuiert wurde. Fast schon klassisch war ihr Tailoring bei maskulin geschneiderten schwarzen Anzügen oder auch ihre Button-Down-Hemden aus Seide mit großen, spitzen Kragen und verlängerten Manschetten. Wohingegen das abschließende Brautkleid aus weißer Baumwolle optisch den Eindruck vermitteln konnte, als habe das Textil vorab einen Durchgang durch den Papierschredder durchlaufen.
„Der Absurdismus ist wirklich der Kern meiner Marken-Identität“, so Martins, die exaltierte Designer von Alexander McQueen über John Galliano bis hin zu Vivienne Westwood als ihre Vorbilder ansieht. Die ganze Kollektion wirkte ein Stückchen erwachsener, wodurch Martins ihren potenziellen Kundenkreis über die Generation Z hinaus womöglich etwas erweitern wollte. „Wir wollten die Codes des Hauses weiterentwickeln“, so Martins, „wie die Schleifen, die Streifen, die Hemden und die Schneiderei. Aber ohne den spielerischen Einfallsreichtum zu verlieren, der den Kern von Saint Sintra ausmacht. Wir wollten unbedingt auch eine Kollektion für eine Frau machen, die nicht mehr nur ein Mädchen ist. Daher haben wir mehr Luxustextilien integriert, um Qualität über Quantität und Stabilität über Vergänglichkeit zu stellen.“
Sintra Martins’ Sommerkollektion 2023 ist eine intensive Beschäftigung mit KI vorausgegangen. Daher entwarf sie einige der Silhouetten mithilfe von Computer-Software. Sehr figurbetont, was vor allem für ein silbernes Hemd aus Kunstleder mit geschlitzten Ärmeln zu einem knöchellangen Rock mit oberschenkelhohem Schlitz galt. Es gab auch wieder maskulin gehaltene Hosenanzüge, die im Kontrast zu sexy Micro-Shorts standen. Natürlich durfte auch ein die Taille wespenartig einschnürendes Korsett nicht fehlen. Ein besonderer Eyecatcher war eine Jeansjacke mit übergroß-wallenden Bischofsärmeln.
Die Herbst-Winter-Kollektion 2023/2024 wirkte ein wenig wie mit der berühmten heißen Nadel gestrickt. Martins konnte sie nur unter größtem Zeitdruck fertigstellen, und da sie auf die Schnelle keine professionellen Models zur Präsentation finden konnte, ließ sie ihre Entwürfe einfach von ihren besten Freundinnen vorführen. Dem Event in der angesagten New Yorker Bar „Jac’s on Bond“ mutete daher an wie ein fröhlicher Mädelsabend zu dröhnender Musik. Unter den Looks konnten vor allem die den Körper sanft umspielenden Röcke aus Samt und Seide überzeugen.