In der Nacht zum 26. März brachte ein Containerschiff die Autobahnbrücke über dem Patapsco-Fluss nahe dem wichtigen Frachthafen der US-Stadt Baltimore zum Einsturz. Das auf Video gebannte Szenario der Katastrophe mit sechs Todesopfern erinnerte fatal an Hollywood-Action-Blockbuster.
In der Nacht zum 26. März, gegen 1 Uhr Ortszeit, hatte das unter der Flagge Singapurs fahrende Containerfrachtschiff „Dali“ den Hafen der Stadt Baltimore im US-Bundesstaat Maryland verlassen. Es wollte über den Fluss Patapsco den Atlantischen Ozean und von dort sein Ziel Colombo in Sri Lanka ansteuern. Das Schiff, als dessen Eigentümer die Grace Ocean Private Limited mit Sitz in Singapur registriert ist und das von der Synergy Marine Group betrieben wird, hatte recht schnell Fahrt aufgenommen. Mit acht Knoten – umgerechnet etwa 14,5 Kilometern pro Stunde – war der Frachter unterwegs, als die Crew plötzlich feststellte, dass sich das Schiff nicht mehr manövrieren ließ. Die Besatzung setzte umgehend einen Notruf ab. Die Behörden versuchten daraufhin in Windeseile, die Zufahrt zur Francis Scott Key Bridge zu sperren, die den Patapsco überspannt und die Stadtteile Hawkins Point und Dundalk miteinander verbindet. Die zur Autobahn Interstate 695 gehörende, 2,6 Kilometer lange vierspurige Brücke wurde 1977 erbaut und wird täglich von durchschnittlich 31.000 Fahrzeugen genutzt.
Zusammenbruch mit Dominoeffekt
Bereits wenige Minuten später rammte der manövrierunfähige fast 300 Meter lange Frachter einen der Stützpfeiler der Brücke. Was direkt danach geschah, konnte dank später auch in den sozialen Netzwerken verbreiteten Videoaufnahmen einer Überwachungskamera bei heller Brückenbeleuchtung exakt nachvollzogen werden: Der Pfeiler stürzte in Sekundenbruchteilen in sich zusammen und löste in einem wellenförmigen, einem Ziehharmonika- oder Dominoeffekt ähnelnden Vorgang den Zusammenbruch der gesamten Stahlkonstruktion aus. Die Brücke stürzte ins Wasser und versank teilweise im 15 Meter tiefen Fluss.
Auch wenn die Polizei umgehend nach dem Notruf die Zufahrten zur Brücke gesperrt hatte, befanden sich zum Zeitpunkt der Kollision noch Fahrzeuge auf der Brücke. Was die Zahl von Todesopfern oder Vermissten anging, lagen zunächst aber keine genauen Erkenntnisse vor.
Allerdings war bekannt, dass in besagter Nacht Fahrbahn-Wartungsarbeiten auf der Brücke durchgeführt werden sollten. Von daher konzentrierten sich die mit Sonar-Geräten ausgestatteten Rettungsmannschaften und Taucher, die ihre Aufgabe im Fluss wegen der zahlreichen Trümmerteile nur unter erheblicher Lebensgefahr angehen konnten, bei ihrer Suche zunächst einmal auf die Mitglieder des achtköpfigen Bauarbeiter-Teams. Auch wenn die Feuerwehr von 20 Vermissten und mehreren in die Tiefe gestützten Autos ausging.
Letztlich gelang es den Rettern, zwei der Bauarbeiter lebend zu bergen, drei ihrer Kollegen konnten hingegen nur noch tot aus dem Wasser gezogen werden. Die restlichen drei Männer, die verschwunden blieben, wurden für tot erklärt. Schon kurz nach der Havarie ließen die zuständigen US-Behörden öffentlich verlautbaren, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Unfall gehandelt habe und nichts auf einen Terrorakt hinweise.
Dennoch hatte das FBI bald nach dem Vorfall seine Ermittler an Bord des in den Brücken-Trümmern festsitzenden Frachters geschickt. Auch die Stadt Baltimore hatte wegen Regressforderungen gegenüber dem Eigentümer und der Chartergesellschaft des Frachters schnell Nachforschungen eingeleitet und zwei Anwaltskanzleien eingeschaltet.
Immerhin ist die Synergy Marine Group bezüglich tödlich verlaufender Vorfälle kein unbeschriebenes Blatt. Der US-Nachrichtensender CNN hatte bereits am 27. März berichtet, dass das Unternehmen allein seit 2018 in mindestens drei Unfälle mit Todesfolgen verwickelt war. Die „New York Times“ hatte auf insgesamt 27 Inspektionen des Frachters „Dali“ seit dem Jahr 2015 hingewiesen, wobei 2023 auch Mängel an Antriebs- und Hilfsmaschinen festgestellt worden seien.
Vor dem Auslaufen aus dem Hafen von Baltimore hatten bei routinemäßigen Wartungsarbeiten am Motor der „Dali“ allerdings laut der US-Küstenwache keine Probleme am später havarierten Containerschiff festgestellt werden können.
Die Vermutung, dass ein Stromausfall an Bord für die Havarie verantwortlich gewesen war, verdichtete sich im Laufe der folgenden Untersuchungen immer mehr. Ob Probleme mit dem Ausfall der Stromversorgung dem Frachter-Betreiber und seiner Crew eventuell schon länger bekannt waren, versuchten in den folgenden Monaten sowohl das FBI als auch die Stadt Baltimore für eine strafrechtliche Verfolgung des Vorfalls zu überprüfen. Die Stadt Baltimore leitete bereits einen Monat später Schadenersatzklagen gegen den Eigentümer und den Betreiber des Containerschiffs wegen einer „inkompetenten Crew“ und einem „eindeutig nicht seetüchtigen“ Schiff ein. Die Stadt will damit einen möglichst umfassenden Zahlungsausgleich für den Wiederaufbau der Brücke und die Einnahmeverluste erhalten, die durch die erhebliche Beeinträchtigung des Hafenbetriebs entstanden sind.
Gravierende Folgen für Automobil-Wirtschaft
Die beiden beklagten Unternehmen versuchten ihrerseits im April durch Einreichung einer Petition beim zuständigen Bezirksgericht eine Deckelung der Schadenssumme auf rund 44 Millionen Dollar und damit eine eingeschränkte Haftung zu erreichen. Alles scheint also auf ein langwieriges juristisches Nachspiel hinzudeuten.
US-Präsident Joe Biden hatte sogleich nach dem Unglück eine weitreichende finanzielle Unterstützung der Bundesregierung für den Wiederaufbau der Brücke – die Teil einer der wichtigsten Verkehrsadern an der US-Ostküste ist – in Aussicht gestellt. Er werde „Himmel und Erde in Bewegung setzen, um die Brücke so schnell wie menschenmöglich wieder aufzubauen“, sagte Biden Anfang April beim Besuch am Unglücksort. Die Kosten für den Wiederaufbau werden auf rund 500 Millionen Dollar geschätzt, für die Bauzeit sind etwa zwei Jahre angesetzt.
Weitaus schwieriger als der Brückenschaden mit dem daraus erwachsenden verkehrstechnischen Chaos dürfte vor Gericht der Nachweis der Einnahmeverluste für die Stadt durch die zeitweilige Hafensperrung und die daraus resultierenden Lieferkettenprobleme werden. Der Hafen von Baltimore ist mit seinen 15.000 Arbeitsplätzen einer der größten Frachthäfen der USA, 2023 betrug der Frachtumsatz rund 80 Milliarden Dollar.
Vor allem für die internationale Autoindustrie ist der Hafen von Baltimore eine wichtige maritime Anlaufstelle, weil hier jährlich rund 850.000 Fahrzeuge ankommen. Da sich die komplette Bergung sämtlicher Brücken-Trümmerteile über Monate hinziehen konnte, sahen sich einige deutsche Automobil-Hersteller dazu veranlasst, sich nach alternativen Lieferwegen umzusehen.