Die zeitgenössische Tanzkompagnie „cie. toula limnaios“ feiert 25-jähriges Bestehen. Sie hat sich längst in der Berliner Tanzszene etabliert und zur internationalen Größe entwickelt.
Hinter raumhoch transparenter Folie stehen überdimensionale Schattenwesen, schrumpfen allmählich auf Menschenmaß. Aus dem Off hört man Nachrichtenfetzen über Politik, Demos, Unfälle. Als die Folien fallen, agieren die vier Tänzerinnen, drei Tänzer zunächst separat oder in kurzen funktionalen Begegnungen. Eine Frau umklammert das Bein eines Mannes, wird von ihm mitgeschleift, dann von allen mit Füßen traktiert. Es gibt keine Gnade, Kontaktwillige werden zu Boden gestoßen, eingezwängt. Ein Ventilator lässt Haare und zerknüllte Zeitungsschnipsel fliegen: Auch Nachrichten verwehen im Wind. Aus dem Papiertreiben entsteht eine flüchtige Landschaft, ein Anderland. Geküsst wird durch Knüllpapier oder mit knallrotem Mund auf einen Körper, den das eher stört. Den Mann drapiert die Frau schließlich mit Folie wie eine Braut, legt den Bewegungsunfähigen ab. Er kann ihr nun nicht mehr entkommen.
Kontrast zur Reizüberflutung
Rund 70 Minuten dauert diese gerade wieder aufgenommene Suche nach einer besseren Welt. Sie heißt programmatisch „anderland“ und besticht durch ein fein austariertes Gespinst poetischer wie ambivalenter Bilder. Ausgedacht hat sich das Toula Limnaios bereits 2011. Weshalb eine Wiederaufnahme nach so vielen Jahren? Überflutung mit Reizen und Bildern sei nach wie vor aktuell, sagt die Choreografin. Deshalb habe sie manche Szenen damals bewusst gedehnt, als Verweigerung des Tempos etwa von Videoclips. Es stecke viel Arbeit in einer Produktion, zudem sei sie ein Zeitzeugnis. Und auch die aktuelle Tänzergeneration reagiere neugierig auf ältere Stücke.
Acht Aktive aus fünf Ländern zählt die „cie. toula limnaios“, die sich demonstrativ ohne Großbuchstaben schreibt. Toula Limnaios als künstlerische Leiterin, Choreografin, gelegentlich Tänzerin hat einen langen, durchaus steinigen Weg hinter sich. Geboren wurde sie in Athen in einer armen Arbeiterfamilie, die einen Monat später bereits nach Belgien auswanderte. Der Vater malochte in einem Kohlebergwerk, nach Lüttich wurde Brüssel die Langzeitstation. Schon in der Kita fiel Toulas Bewegungsenergie auf, doch erst mit zwölf konnte ihr die Mutter den Tanzunterricht bezahlen: Klassisch, Spanisch mit Kastagnetten, Armenisch, später Modern. Als sich Toula an Maurice Béjarts berühmter Mudra-Schule bewerben wollte, sagten die Eltern kategorisch Nein. So stoppte ihre Tanzkarriere mit 16.
Erst mit 27 kehrte sie „heim“, begann eine Ausbildung in Tanzpädagogik, lernte die renommierte Solistin Susanne Linke kennen, die sie an die Folkwang Hochschule in Essen empfahl. Vier Jahre lernte sie dort, erst als Gast in den Tanzklassen, so im Fach Komposition, später wurde sie Tänzerin im Folkwang Studio unter Leitung von Pina Bausch. Und hier kommt Ralf R. Ollertz ins Spiel, der bereits einen Studienabschluss besaß, in Folkwang zusätzlich Komposition und Dirigat studierte. Toula und Ralf verliebten sich und beschlossen, etwas Eigenes zu begründen: eine Compagnie, in der Tanz und Musik künstlerisch ebenbürtig sind und die Ensemblemitglieder aktiv mit aufbauen helfen. Das gelang 1996 in Brüssel.
Im Jahr darauf erhielt Ralf R. Ollertz einen Kompositionsauftrag von Georg Katzer für die Akademie der Künste in Berlin. Er konnte Toula Limnaios mitbringen – und so begann eine Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält. Ein Studio in Buch, etwas außerhalb des Zentrums, blieb bis 1999 der Probenort der Compagnie. In rascher Folge und mit großem Fleiß entstanden Stücke, die bald die „Marke“ Toula Limnaios als eine feste Größe im Berliner Tanzgeschehen etablierten: als zierliche Tänzer-Choreografin mit starkem Willen und wacher Bühnenpräsenz. Immer waren es bildkräftige Kreationen, die menschliches Urverhalten aufdeckten, doch ohne selbst die Irrwege zu verurteilen.
Die „Condition humaine“ sei es, die sie nach wie vor interessiere, sagt die Choreografin im Gespräch: Sie wolle poetische Bilder schaffen, Magie erzeugen, ob mit surrealen, zeitgenössischen oder anderen Mitteln, je nach behandeltem Thema. Fantasie sei sehr wichtig, was außer der eigenen sicher auch die ihrer Zuschauer meint. Inspiration holt sie sich immer wieder aus der Literatur, bei Autoren, die vom Zerquältsein des Menschen berichten. So entwarf sie etwa eine Trilogie nach Samuel Beckett und zwei Stücke zu Dostojewski. Die lähmende Vergeblichkeit aller Beziehungen und wie sie an der Selbstgefälligkeit der männlichen Partner scheitern, das führt Toula Limnaios in dichten Szenen vor und erreicht damit, was im zeitgenössischen Tanz selten ist: Theater.
Auftritte in großen Theatern oder auch mal im Dschungel
Dass hierzu erheblich auch Co-Leiter Ralf R. Ollertz beiträgt, als Komponist, Instrumentalist und Klangmixer, versteht sich. Weder Choreografie auf fertige Musik noch Musik lediglich als Untermalung schwebe beiden vor. Er komponiere während der Probe aus dem unmittelbaren Eindruck der tänzerischen Recherche, und ändere dann so lange, bis ein befriedigendes Ergebnis zustande kommt. So entsteht im Verbund mit Kostüm und Licht ein Bühnenerlebnis als Gesamtkunstwerk. Seit 2003 findet all das in der „HALLE“, einer umgebauten Schulsporthalle, als eigenem Proben- und Aufführungsort statt. Dort beging die „cie. toula limnaios“ inzwischen ihr 25-jähriges Bestehen und feierte den Anlass, neben vielen ausverkauften Vorstellungen, auch mit einer repräsentativen Buchedition. Sie stellt in Bild und Text die mittlerweile über 50 Produktionen vor und listet die Namen aller beteiligten Tänzer auf. Wie lange die meisten der Compagnie verbunden blieben, spricht für eine so angenehme wie kreative Atmosphäre.
„Ich will vor mir ehrlich bleiben“, bekennt Toula Limnaios und meint damit auch, dass sie sich bemüht, für jedes Stück eine Originalsprache zu finden, Wiederholungen in Schritt und/oder Bild zu vermeiden. Die Stücke müssen zuerst sie bewegen, dann können sie auch andere bewegen. Ob es dennoch zumindest Lieblingsrequisiten gebe, die sie häufig nutzt? Ja, Schuhe, sagt sie lächelnd, vielleicht als Metapher für zurückgelegte Wege, und Ventilatoren, um Luft sichtbar zu machen. Und sie fügt an, es gelte noch viel zu entdecken, viel Handwerk zu erlernen, noch sei nicht alles Tanz- und Bildbare ausgeschöpft. Dieser Bescheidenheit stehen indes große Erfolge gegenüber, außer Preisen zahlreiche Auslandsgastspiele, ob vermittelt vom Goethe-Institut, als Kulturbotschafter des Auswärtigen Amts oder über Einladungen und Empfehlungen. Tourneen in weit über 30 Ländern von Armenien bis Zypern auf drei Kontinenten haben den Namen Toula Limnaios international popularisiert. Die Auftritte reichen von großen Häusern mit 2.000 Zuschauern bis zum brasilianischen Dschungel vor Menschen, die noch nie Tanz gesehen haben. Sie blieben dann gern noch dort, resümiert Toula, lernten Künstler vor Ort kennen, gäben gratis Workshops und Lectures.
In dieses Prinzip künstlerischer Unterstützung gehört auch das Netzwerk Utopia, das vom Leitungsteam Lim-naios/Ollertz 2022 gegründet wurde. Es verknüpft ein knappes Dutzend europäischer Tanzensemble im gegenseitigen Austausch von Gastspielen. Nicht nur deshalb wird auf dem Gelände der Compagnie ein Neubau als Proben- und Verwaltungszentrum errichtet, damit in der „HALLE“ mehr Vorstellungen möglich sind. Der sozialen Verantwortung kommt auch die institutionelle Förderung der Gruppe durch das Land Berlin zugute: Sie sichert allen insgesamt 18 Compagnie-Mitgliedern eine Festanstellung. Was in diesem Jahr noch ansteht: zwei Wiederaufnahmen, eine Premiere, ein Gastspiel auf Sizilien – und parallel die Baumaßnahmen. Respekt!