Ein Mensch, bei dem Autismus diagnostiziert wurde, befindet sich auf dem Spektrum, sagt man heute. Der Kinder- und Jugendpsychologe Prof. Dr. Sven Bölte spricht darüber, warum heute vermehrt die Diagnose „Autismus-Spektrum-Störung“ gestellt wird und welchen Einfluss die Gene und Umwelt auf das Phänomen haben.
Herr Prof. Bölte, lange Zeit orientierte man sich an den drei Subtypen: frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und atypischer Autismus. Weshalb wurden diese drei Typen unter Autismus-Spektrum-Störungen, kurz ASS, zusammengefasst?
Die Idee, dass man Autismus nicht in verschiedene Subtypen unterteilen sollte, ist schon recht alt. Die Diagnose-Manuale versuchten lange, Autismus-Diagnosen voneinander abzugrenzen; heute tun sie dies aber nicht mehr. Man konnte nichts finden, dass diese Diagnosen und die Menschen, bei denen diese gestellt wurden, sich systematisch unterscheiden. Es ist immer mehr eine Frage, wie ausgeprägt die Symptome sind und wie sie sich zusammensetzen. Da sich die Individuen mit den unterschiedlichen Diagnosen schlichtweg zu ähnlich waren, leitete man daraus ab, dass Autismus ein Spektrum desselben Phänomens ist. Es ergab daher keinen Sinn, verschiedene Diagnosen zu vergeben. Wichtig ist aber, wenn eine Diagnose heute gestellt wird, muss sie näher spezifiziert werden.
Was heißt das?
Man diagnostiziert zuerst, dass sich die Person auf dem Spektrum befindet, und beschreibt sie danach noch weiter. Das heißt, es wird zum Beispiel untersucht, ob die betreffende Person eine verminderte Intelligenz hat, wie sich das Sprachvermögen entwickelt hat und ob es eine Regression im Lauf der Entwicklung gegeben hat. Daneben wird geschaut, ob auch begleitende psychische und körperliche Einschränkungen vorliegen.
Kann man trotzdem eine Art Kernsymptomatik ausmachen bei denjenigen, die mit Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert werden?
Ja, es gibt immer noch Diagnose-Kriterien, die für alle erfüllt werden müssen. Das sind die Diagnose-Kriterien zum Bereich soziale Kommunikation/sozialer Interaktion und zum Bereich repetitive, stereotype und restriktive Verhaltensweisen. Verändert hat sich gegenüber früher, dass mit Blick auf den erstgenannten Bereich keine scharfe Trennlinie mehr zwischen sozialen und kommunikativen Schwierigkeiten gezogen wird. Im zweiten Bereich hat man hyper- und hyposensitive Erlebnisse mit aufgenommen. Wir finden, dass dieser Bereich für autistische Personen sehr wichtig ist. Außerdem hat man die konkreten Altersgrenzen in Bezug darauf, wann Symptome auftreten können, herausgenommen.
Was versteht die ASS-Forschung unter hyper- und hyposensitiven Erlebnissen?
Hypersensibilität besteht häufig gegenüber Gerüchen, Geräuschen, Lichtverhältnissen oder Berührung. Ich bin Vorstandsmitglied von Autismus Schweden. Wenn die Mitglieder der Interessenorganisation, darunter Personen mit eigener Diagnose und deren Angehörige, sich treffen, weiß man, dass man vorher kein Parfüm auftragen sollte. Einige Autisten können Parfümduft als sehr anstrengend wahrnehmen. Als hyposensitives Empfinden bezeichnet man zum Beispiel, wenn kein starkes Schmerzempfinden oder kein starkes Hungergefühl entsteht.
Interessant ist, dass in letzter Zeit bei Kindern immer häufiger dieses Störungsbild diagnostiziert wird. Wie bewerten Sie den Umstand, dass sich die Diagnosen mehren?
Weltweit liegen wir schätzungsweise bei einem Prozent. In Europa liegen wir vermutlich eher zwischen ein und drei Prozent. Dass mehr Diagnosen gestellt werden, hat viele Ursachen. Ein eher trivialer Grund ist, dass man Diagnosen heute zu einem früheren Zeitpunkt stellt, und auch mehr Mädchen sowie Erwachsene die Diagnose erhalten. Eine andere Variable ist, dass häufiger Doppel- und Dreifach-Diagnosen gestellt werden. Früher hat man eher eine Diagnose gestellt, heute beobachten wir die Tendenz, mehrere zu stellen. Da kann auch Autismus mit dabei sein. Früher hat man beispielsweise eher nicht sowohl Autismus als auch ADHS diagnostiziert, was heute häufig vorkommt.
Was sind weitere Ursachen für die Diagnosehäufigkeit?
Wenn wir die gesellschaftliche Entwicklung betrachten, stellen wir fest, dass es heutzutage viel mehr Awareness und Wissen gibt. Hinzu kommt, dass eine neue Generation von Klinikerinnen und Klinikern im Gesundheitswesen und in der Forschung arbeiten. Nach wie vor stellt eine Diagnose ein Ticket dar, um Hilfs- und Fördermöglichkeiten in Anspruch nehmen zu können. Die Diagnosen sind anders als früher nicht mehr so stigmatisierend. Früher war man sehr vorsichtig, eine solche Diagnose zu stellen – allein wegen des Stigmas. Heute ist das nicht mehr so, deutlich weniger fühlen sich stigmatisiert. Dazu kommt, dass wir ein viel schnelleres, komplexeres Gesellschaftssystem haben. Menschen mit autistischen Zügen können dadurch zum Beispiel Probleme haben mit der Lebensführung. Nicht zuletzt kann eine Diagnose heute identitätsstiftend sein, früher war das nicht der Fall. Man findet sich in dem Anderssein wieder.
Wie schätzen Sie die kontrovers diskutierte Neurodiversität ein?
Erst einmal muss man festhalten, dass die Bewegung nicht aus dem Nichts heraus entstanden ist, sie ist Teil der Diversity-Bewegung. Die Neurodiversitäts-Bewegung gibt es auch schon länger, in den letzten fünf bis zehn Jahren hat sie jedoch an Fahrt gewonnen. Prinzipiell finde ich ist es eine sehr positive Entwicklung. Wir wissen, dass es durchaus auch ganz gesunde und glückliche Autisten gibt. Von den Begriffen Krankheit und Störung versucht man immer mehr wegzukommen. In der Vielfalt aller Menschen gibt es Einzelne, die Schwierigkeiten damit haben, den gesellschaftlichen Erwartungen und Forderungen, wie man zu sein hat und was man leisten soll, zu entsprechen. Da findet man diese Diagnosen. Die allermeisten Menschen mit dieser Diagnose haben ein größeres Risiko für psychische Beeinträchtigungen beziehungsweise körperliche Erkrankungen. Das geht auf jeden Fall mit einer gewissen Vulnerabilität einher. Die Neurodiversitäts-Bewegung propagiert aus meiner Sicht zu Recht zwei Dinge: Erstens muss man den ganzen Menschen sehen und anerkennen, dass er auch Stärken hat. Zweitens gibt es durchaus das Potenzial, eine Autismus-tolerantere Atmosphäre in der Schule, am Arbeitsplatz und anderen Teilen der Gesellschaft zu schaffen.
Autismus-Spektrum-Störungen bleiben bei Mädchen und jungen Frauen oftmals unerkannt. Warum ist das so?
In Schweden zumindest ist extrem viel in Bewegung. Im jungen Erwachsenenalter haben wir hier heute genauso viele Männer wie Frauen, die diagnostiziert sind. Das heißt, es hat sich sehr viel getan. Andere Länder sind in der Entwicklung in einer anderen Phase. Aber auch in Schweden werden Frauen im Schnitt noch immer drei bis vier Jahre später diagnostiziert als Männer. Dem liegen verschiedene Ursachen zugrunde. Es ist Tradition, dass immer noch viele die Diagnose nicht mit Mädchen in Zusammenhang bringen. Jungen und junge Männer tendieren eher zu externalisiertem Verhalten, das heißt die Andersartigkeit ist viel sichtbarer. Mädchen und Frauen tendieren eher dazu, sozialer und verbaler zu sein, was nicht unmittelbar autistisch wirkt. In sozialen Zusammenhängen strengen sie sich mehr an, um nicht aufzufallen – das nennt man Masking oder soziale Tarnung. Es gibt auch größere sozialere Bedürfnisse; man will am sozialen Leben teilhaben und vielleicht Freunde haben. Wenn autistische Mädchen Interessen haben, sind die angepasster.
Eine Fünf-Länder-Studie, die vor fünf Jahren veröffentlicht wurde, zeigte, dass 80 Prozent der autistischen Störungen auf vererbte genetische Einflüsse zurückzuführen sind. Gibt es darüber hinaus weitere nicht genetisch bedingte Risikofaktoren für ASS?
Zunächst einmal muss man wissen, was Heritabilität heißt. 80 Prozent vom gezeigten autistischen Verhalten in einer größeren Gruppe von Zwillingen oder Geschwistern ist mit genetischen Faktoren zu erklären. Das heißt aber nicht, dass in jedem Individuum 80 Prozent genetisch nachweisbar sind. Wir wissen, dass Genetik eine große Rolle spielt. Neben allgemeinen genetischen Varianten, die auch häufiger in der Allgemeinbevölkerung vorkommen, gibt es seltenere genetische Varianten. Während die allgemeineren Varianten einen kleinen Effekt hervorrufen, haben die selteneren einen umso größeren Effekt. Früher dachte man, dass man das Autismus- oder das ADHS-Gen findet. Das ist Humbug. Es gibt viele Gene, die auch mit Umwelteinflüssen zusammenwirken. 20 Prozent des Autismus ist umweltbedingt. Allerdings hat sich nichts Spezifisches herauskristallisiert. Wir wissen nur, dass Umwelteinflüsse wie Viralinfektionen, Medikamente, Drogen, Umweltverschmutzung und die Ernährung in der Schwangerschaft eventuell eine Rolle spielen können, jedoch ist das davon abhängig, wann sie auftreten, wie stark die Exponierung ist, auf welche Gene das trifft und in welchem Alter.
Ein Medikament gegen die Kernsymptome von ASS gibt es zwar nicht, wohl aber gegen ADHS, Angst- und Schlafstörungen, Depressionen und Epilepsie. Wie sinnvoll halten Sie deren medikamentöse Behandlung?
Viele Autisten leiden unter Depressionen, Ess-, Angst- oder Schlafstörungen, Epilepsie oder Magen- und Darmproblemen. Daher sollte es oberste Priorität sein, in der Therapie darauf zu fokussieren. Man muss sich natürlich bewusst sein, dass die Wirkung von gängigen Verfahren hierfür bei Autismus anders sein kann und manchmal nicht ganz so stark ist. Man weiß zum Beispiel, dass zentrale Stimulanzien, die man bei Personen mit ADHS einsetzt, in der Regel gut wirken und wenig Nebenwirkungen zeigen. Anders wirken sie gegebenenfalls bei Menschen mit Autismus und ADHS; hier treten mehr Nebenwirkungen auf und der Effekt ist geringer.
Was können das für Stimulanzien sein?
Am meisten verschrieben werden Amphetamin-Derivate und Methylphenidat.
Seit Januar 2022 gilt die ICD-11, also jenes internationale Klassifizierungssystem für Krankheiten, doch offiziell wird es hierzulande noch nicht angewandt. Was ändert sich nun, wenn Expertinnen und Experten die Diagnose oder Verdachtsdiagnose Autismus-Spektrum-Störungen stellen möchten?
Im Prinzip bestätigen die meisten diagnostischen Manuale den Status quo der Praxis. Die ICD-10 ist 1992 herausgekommen, das ist eine Ewigkeit in der Klinik und Forschung. Das DSM-5, also die fünfte Fassung des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, ist 2013 erschienen. Ich denke, dass sich nicht viel ändern wird. Bereits unter der ICD-10 hat sich die Anzahl der gestellten Diagnosen, die Art und Weise, wie man arbeitet, und der Grad der Bewusstheit verändert. Meiner Einschätzung nach wird die ICD-11 in der Praxis nur sehr wenig verändern. Sie wird allerdings einen Unterschied für diejenigen machen, die nicht ganz so nah am Geschehen sind. Der Wechsel von ICD-10 zu ICD-11 ist natürlich auch eine bürokratische Umstellung.
Was müsste getan werden, damit sich Menschen mit Autismus positiv und ohne Barrieren entwickeln können?
Aus meiner Sicht ist sehr wichtig, dass wir einen Paradigmenwechsel hinbekommen – von einem rein medizinischen Modell zu einem mehr Teilhabe-betonten Modell. Wir sollten Teilhabe von Autisten als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstehen. Teilhabe und Akzeptanz müssen wir in der Freizeit, in der Schule und am Arbeitsplatz erreichen. Dafür braucht es eine gute Ausbildung von all denjenigen, die Verantwortung für Menschen mit Autismus tragen – angefangen von Mitarbeitenden in Behörden bis hin zu Lehrerinnen und Lehrern. Auch in der Nachbarschaft sollte Toleranz und Hilfsbereitschaft gelebt werden. Was offensichtlich nicht funktioniert, ist, diese Menschen allein mit Diagnosen zu versehen und ins Gesundheitswesen abzuschieben. Die Gesellschaft wird sich aber auch sicher nicht vollständig an die Bedürfnisse von Autistinnen und Autisten anpassen. Wenn man gesund, neurotypisch und ein wenig privilegiert ist, sollte man bereit sein, etwas zu geben – das ist Teil des Gesamtpakets. Aber auch die Autistinnen und Autisten müssen ihren Teil dazu beitragen, in unterschiedlichem Maß, auf ihrem individuellen Niveau. Dabei muss man ihnen helfen.