Treten Entzündungen dauerhaft über einen langen Zeitraum auf, ist die Rede vom Phänomen „Inflamm-Aging“, dem Entzündungsaltern. Prof. Dr. Ursula Müller-Werdan von der Charité Berlin spricht im Interview über das alternde Immunsystem und den diätetischen Entzündungsindex von Lebensmitteln.
Frau Prof. Dr. Müller-Werdan, der Begriff „Inflamm-Aging“ wurde vor 24 Jahren von dem italienischen Immunologen Claudio Franceschi geprägt. Er beschrieb damit den Vorgang, dass das Immunsystem im Laufe seines Alterungsprozesses immer mehr entzündungsfördernde Botenstoffe freisetzt. Warum ist das so?
Wie jedes andere Organ unterliegt unser Immunsystem einem Alterungsprozess. Dieser Vorgang führt dazu, dass es bei jedem von uns mit zunehmendem Alter zu einer dauerhaften, chronischen, wenn auch geringgradigen Entzündung kommt. Das Ausmaß der Alterung ist abhängig von der eigenen Pathogen-Biografie, also davon, wie stark das Immunsystem über das gesamte Leben durch Infektionen und Fremdkörper herausgefordert wurde. Der Alterungsprozess nimmt unterschiedlichen Einfluss auf die beiden Komponenten unseres Immunsystems: Das archaische System der innaten, natürlichen Immunabwehr, das im Wesentlichen von Monozyten getragen ist, wird unspezifisch aktiviert. Das evolutionär neuere adaptive Immunsystem beruht auf der Fähigkeit der Lymphozyten, Gedächtniszellen zu bilden, was im Alter zunehmend schlechter funktioniert. Im Alter ist also die natürliche Immunabwehr zunehmend dauerhaft aktiviert in Form einer niedergradigen Entzündung, während sich die spezifische Immunabwehr zunehmend abnutzt. Beides ist ungünstig für die Funktion des Immunsystems.
Das Immunsystem ist also ein Organ, dessen Funktionen sich mit der Zeit abnutzen?
Ja, genau. Man kann es als Organ bezeichnen, aber natürlich ist es kein kompaktes, anatomisch fassbares Organ. Wenn Sie die Zellmasse im Gesamten und die Lymphknoten betrachten, dann kann man durchaus von einem stattlichen, im ganzen Körper verstreuten Organ sprechen. Das Immunsystem reagiert auf alle möglichen Schäden, die im Lauf des Lebens auf den Körper einprasseln. Bakterien und Viren etwa dringen in den Körper ein und müssen durch Entzündungen neutralisiert werden. Auch nach einem Sonnenbrand oder einer Schnittwunde muss das Immunsystem Reparaturprozesse anstoßen. Das Immunsystem ist also ständig gefordert. Es reagiert im ersten Schritt der Abwehr modular, das heißt das Arsenal der Zellen wird sofort aktiviert – egal, welcher Stressor gerade einwirkt. Diese modulare Antwort verselbständigt sich im Alter.
Kann man differenzieren, ob häufiger Frauen oder Männer vom Entzündungsaltern betroffen sind?
Grundsätzlich trifft das jeden Einzelnen. Jeder Mensch, der alt genug wird, erlebt diesen Prozess, jedoch in unterschiedlich starker Ausprägung. Frauen haben von vornherein ein etwas stärkeres Immunsystem als Männer. Der Körper der Frau muss den Stress in der Schwangerschaft und während der Geburt aushalten und zudem den Fötus schützen. Der Preis dafür ist allerdings, dass Frauen in jüngeren Jahren häufiger von Autoimmunerkrankungen betroffen sind als Männer. Ein kleiner Vorteil besteht jedoch darin, dass die Immunalterung bei Frauen etwas später und langsamer einsetzt.
Wie ist die aktuelle Studienlage zu „Inflamm-Aging“?
Viele wissenschaftliche Studien haben sich mit dem Alterungsprozess des menschlichen Immunsystems beschäftigt. Auch an der Charité arbeiten einige Forschungsgruppen daran. Meine Mitarbeiterin, Frau Professorin Kristina Norman, die unter anderem an der Charité den Fachbereich „Translationale Biogerontologie“ leitet, forscht insbesondere zur Frage, inwieweit die Ernährung das Immunsystem verändern kann. Darüber hinaus gibt es an der Charité viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich auch mit Entzündungsprozessen innerhalb ihres Fachs auseinandersetzen.
Das heißt also, dass sich an der Berliner Charité alle möglichen medizinischen Disziplinen mit dieser Thematik befassen?
Inzwischen betreiben alle Disziplinen innerhalb der klinischen Medizin auf dem Gebiet der Entzündungsreaktionen Forschung. Die operativen Fächer der Medizin beforschen intensiv die Entzündungsreaktionen im Rahmen von chirurgischen Eingriffen. Eine Operation ist erst einmal ein Trauma, ein ganz starker Stimulus für das Immunsystem. Daneben führen die Anwendung einer Herz-Lungen-Maschine oder eine Dialyse, wo Blut durch Schläuche geleitet wird, zur Aktivierung des Immunsystems.
Chronische Entzündungen verursachen keine oder kaum Symptome. Wann sollten die Betroffenen dennoch körperliche Beschwerden ernst nehmen und abklären lassen?
Die ganz niederschwellige Entzündung spürt man nicht. Denn sie löst kein Fieber oder keinen Schüttelfrost aus. Das Problem ist: Wir haben immer noch keinen vereinheitlichten Messwert im Labor, um beispielsweise sagen zu können, ob das Immunsystem eines Menschen stark oder schwach gealtert ist. Wir kennen viele einzelne Parameter, die sich verändern, aber noch nicht so etwas wie die Leber- oder Nierenwerte in der Standard-Blutanalyse. Kurz: Einen Goldstandard, mit dem sich die Alterung des Immunsystems bestimmen lässt, gibt es aktuell noch nicht. Wohl aber haben wir in der Forschung sehr viele Puzzleteile, was sich alles verändert.
Wie realistisch ist Ihrer Einschätzung nach so ein Goldstandard?
Das glaube ich schon, dass ein solcher Goldstandard bald kommt. Sehr viele Arbeitsgruppen arbeiten derzeit daran. So ein Goldstandard muss praktikabel sein, wenn man ihn als laborchemischen Parameter vereinheitlichen will. Ich hoffe sehr, dass wir bald mit einem Messwert arbeiten, um den einzelnen Patienten letztlich sagen zu können, in welchem Zustand sich sein Immunsystem befindet.
Wie gefährlich sind diese stillen Entzündungsprozesse, auch mit Blick auf Volkskrankheiten wie Diabetes, Alzheimer und Arteriosklerose?
Wir wissen, dass der Übergang vom Phänomen des „Inflamm-Aging“ zu Zivilisationskrankheiten fließend ist. Natürlich kann man keine einfache Kausalität herstellen. Der Begriff „Geroscience“ drückt aus, dass die chronischen Erkrankungen im hohen Lebensalter auf dem Alterungsprozess der Organe beruhen. Wahrscheinlich gibt es einen jahrzehntelangen Vorlauf, ehe eine Krankheit manifest wird. Wir ziehen eine künstliche Trennlinie zwischen gesundem Altern, krankhaftem Altern und den Alterskrankheiten. Umso mehr sollte man natürlich auf Prävention setzen, denn sie kommt derzeit meist erst ins Spiel, wenn die Krankheit schon da ist. Man müsste eigentlich sehr viel früher Prävention betreiben, damit es gar nicht erst zur Entstehung der Erkrankung kommt.
Kann man etwa über eine ballaststoffreiche Ernährung solchen Entzündungen vorbeugen?
Ganz verhindern kann man das nicht. Man kann jedoch das Ausmaß des „Inflamm-Aging“ modulieren. Natürlich macht es einen großen Unterschied, ob man sich im Erwachsenenalter vernünftig ernährt und Noxen, wie etwa Zigarettenrauchen, meidet. Beim Inhalieren des Tabakrauchs nimmt man viele entzündungsfördernde Substanzen auf.
Kann Alkoholkonsum auch diese Entzündungsprozesse weiter anfachen?
Alkohol ist im Grunde ein Gift für die Zellen. Gegen jede Noxe, die auf den Körper einprasselt, versucht das Immunsystem sich zu wehren und wird dadurch aktiviert. Zu den Noxen zählen alle möglichen Dinge – angefangen von der Schnittverletzung über Alkohol und Tabak bis hin zu bestimmten Bestandteilen der Ernährung. Man müsste eigentlich schon Kindern so früh wie möglich beibringen, sich richtig und gesund zu ernähren und Noxen zu meiden.
Wenn ich mich ballaststoffreich ernähre und adipös bin, schwächt sich dann eher der entzündungshemmende Effekt meiner Ernährungsweise ab?
(kurze Pause) Ja, wahrscheinlich lässt sich das nicht einfach so mathematisch zusammenrechnen und sagen, dass man A mit B neutralisiert. Sicher ist, dass es Modulationen gibt. Wir müssen quasi in einem Integral denken, das heißt, die Summe aller Prozesse, die gerade im Körper simultan stattfinden, ergeben netto eine starke oder weniger starke „Inflamm-Aging“-Antwort. Mit einer ballaststoffreichen Ernährung unterstützt man vor allem das Darm-Mikrobiom. Ballaststoffe kann der Körper ja nicht selber verdauen und als Nährstoff verwerten. Aber im Darm sorgen Ballaststoffe für den Erhalt der Bakterien-Zusammensetzung, die für den Körper nützlich ist. Dadurch kann man das Entzündungsgeschehen, das vom Darm ausgeht, modulieren. Das ist der Grund, warum ballaststoffreiche Ernährung günstig ist.
Und welche Rolle spielt das Bauchfett?
Das viszerale Fettgewebe, das typischerweise bei übergewichtigen Männern im Bauchraum zunimmt, löst entzündliche Aktivitäten aus. Das wurde in vielen Studien sehr gut belegt. Wenn jemand viel Bauchfett hat, ist es schon von Vorteil, wenn er sich ballaststoffreich ernährt.
Was weiß man über die bioaktiven Pflanzeninhaltsstoffe Flavan-3-ole, eine Untergruppe der Flavonoide, und inwiefern sie einen vor chronischen Entzündungen schützen?
Wir sprechen ja hier von sekundären Pflanzeninhaltsstoffen. Dazu muss man wissen, dass das eine Vielfalt verschiedenster Substanzen sind. Es ist gut belegt, dass viele davon gesundheitsfördernd sind. Übersetzt bedeutet das: Man sollte möglichst viel buntes Obst und Gemüse essen, also möglichst viele Farben in seiner pflanzenbasierten Ernährung aufnehmen. Auch sollte man Lebensmittel bevorzugen, die Omega-3-Fettsäuren enthalten, wie etwa Walnüsse und Leinsamenöl.
Lösen Lebensmittel, die mit dem Label „antientzündlich“ beworben werden, auch wirklich das Versprechen ein und wirken entzündungshemmend?
Tatsache ist, dass im Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam, wo auch meine Kollegin Prof. Dr. Norman tätig ist, Lebensmittel nach ihrem dietary inflammatory index, also ihrem diätetischen Entzündungsindex, klassifiziert werden. Man kann anhand dieses Scores feststellen, dass manche Lebensmittel stärker entzündlich wirken und andere eher das Potenzial haben, Entzündungen einzudämmen. Das kann man messen anhand der Entzündungswerte im Blut. Ist in einem Lebensmittel viel Zucker verarbeitet, bedeutet das eine hohe entzündliche Aktivität.
Wie also kann man es schaffen – außer über eine ballaststoffreiche, pflanzenbasierte Ernährung –, Entzündungsprozesse anzuhalten oder zu verlangsamen?
Ein wichtiger Punkt ist, Fettleibigkeit zu vermeiden. Wer fettleibig ist, hat einen BMI über 30. Die sportliche Aktivität hat auch einen positiven Einfluss auf das Immunsystem. Wissenschaftlich erwiesen ist, dass man mit moderaten sportlichen Aktivitäten einen günstigen Einfluss nehmen kann auf die Ausbalancierung von Entzündungen und antientzündlicher Aktivität. Man sollte versuchen, ein Vermeidungsverhalten zu entwickeln. Jede schwere Infektionskrankheit, etwa eine Influenza, die man nicht bekommt, schont das Immunsystem. Das zeigen ja auch Long-Covid beziehungsweise Post-Covid-Fälle: Schwere Infektionserkrankungen ziehen das Immunsystem stark in Mitleidenschaft.