Dass Frauen – etwa bei einem Herzinfarkt – häufig andere Symptome haben als Männer, ist seit den 1990er-Jahren bekannt. Inwiefern bestehen auch bei der Behandlung Nachteile? Und woran liegt das? Ein Interview mit Dr. Werner Bartens.
Herr Dr. Bartens, in Ihrem neuesten Buch geht es darum, dass sich Krankheiten bei Frauen oft anders äußern und falsch behandelt werden. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?
In erster Linie hat es mich als Arzt und Medizinjournalist motiviert, über dieses vernachlässigte Thema zu schreiben. Weil Frauen in der Medizin oft schlechter behandelt und falsch verstanden werden, besteht dringend Aufklärungs- und Veränderungsbedarf. Auf Versäumnisse und Fehlentwicklungen in der Medizin hinzuweisen, halte ich für wichtig. Dass Frauen massive Nachteile in der Diagnostik und Behandlung und damit auch in der Prognose haben, wenn sie einen Herzinfarkt erleiden, ist seit 30 Jahren bekannt. Aktuelle Studien zeigen, dass sich daran noch immer wenig geändert hat. Das war ein Anlass für mein Buch. Der zweite Anlass war, dass sich Nachteile für Frauen in fast allen Bereichen der Medizin zeigen, wenn man genauer nachforscht.
Frauen haben bei einem Herzinfarkt oft andere Symptome als Männer. Inwiefern unterscheiden sich diese?
Ärzte müssen die Unterschiede kennen und wissen, dass Rückenschmerzen, Übelkeit, Luftnot oder Oberbauchschmerzen bei Frauen auf einen Herzinfarkt hinweisen können – und sie oftmals nicht den Linksseitenschmerz und das Gefühl der Brustenge haben wie Männer. Frauen klagen bei einem Infarkt häufiger über Unwohlsein und starke Erschöpfung. Die „typischen“ Infarktsymptome wie kalter Schweiß, linksseitiger Brustschmerz, der in Schulter oder Kinn ausstrahlen kann, sind hingegen bei Männern häufiger. Typisch sind diese Symptome deswegen hauptsächlich für Männer.
Wie sind diese Unterschiede zu erklären? Man würde ja eigentlich denken, dass das Herz und seine Erkrankungen bei beiden Geschlechtern gleich funktionieren …
Erklären lässt sich das bisher nicht richtig. Zu wissen, dass es so ist, wäre wichtiger. Mögliche Erklärungsansätze: Frauen nehmen mehr Schmerzen und vielfältiger Schmerzen wahr als Männer. Ihr Immunsystem funktioniert anders, ihre Hormonspiegel verändern sich und sind anders – auch das könnte eine Rolle spielen.
Inwiefern werden Frauen bei Infarkten falsch behandelt?
Falsch nicht unbedingt, vor allem zu spät. Aber „Time is Brain“ – mit jeder Verzögerung in der Rettungskette geht durch die Mangeldurchblutung des Gehirns nach einem Infarkt Hirngewebe unter, was zu mehr Folgeschäden und mehr Todesfällen führt. Und die Verzögerungen fangen früh an: Laien leisten Frauen mit Infarkt seltener Erste Hilfe als Männern, weil sie schlicht keinen Infarkt bei Frauen vermuten. Im Rettungswagen wird weniger gezielt auf einen Infarkt hin untersucht. Im Krankenhaus kommen Frauen mit Infarkt später in die Notaufnahme und bekommen später einen Kathetereingriff mit einem Ballon, womit das verstopfte Gefäß aufgedehnt wird. Die „Door-to-Balloon“-Zeit dauert bei Frauen je nach Studie zwischen zehn und 20 Minuten länger – diese Zeit kann über Leben und Tod entscheiden.
Bei welchen Krankheiten gibt es noch starke Unterschiede zwischen den Geschlechtern?
Frauen werden chronische Lungenleiden nicht so zugetraut wie Männern, weshalb diese Erkrankungen bei ihnen oft übersehen werden. Frauen haben häufiger Nierenerkrankungen, kommen aber seltener an die Dialyse. Sie sind öfter Organspender, bekommen aber seltener Organe verpflanzt. Von Autoimmunerkrankungen sind zu mehr als 70 Prozent Frauen betroffen, trotzdem werden diese Leiden bei ihnen schlechter behandelt und die Beschwerden oft als rein „psychisch“ abgetan. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen – deshalb gehe ich ja in meinem Buch viele Erkrankungen durch und weise auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede hin.
Alzheimer trifft Frauen deutlich häufiger als Männer – auch weil sie älter werden, die Krankheit bei ihnen früher beginnt und sie ein größeres Risiko bei bestimmten Genvarianten haben. Dies wird verschleiert, weil Frauen in Demenz-Tests besser abschneiden. Ärzte sollten wissen, dass Frauen früher erkranken, aber ihre Erkrankung später erkannt wird – und sie schlechter versorgt und behandelt werden. Das gilt es zu vermeiden.
Diabetes kommt zwar etwas häufiger bei Männern als bei Frauen vor, aber in jüngeren Jahren erkranken Frauen öfter. Wenn eine Diabetes-Neigung entsteht, entwickelt sich die Erkrankung bei Frauen schneller. Gleichzeitig werden die damit einhergehenden Risiken – Herzinfarkt, Herzinsuffizienz, Schlaganfall – bei Frauen unterschätzt und von Ärztinnen und Ärzten zu wenig beachtet. Zudem wirken Diabetes-Medikamente unterschiedlich gut, wie ich in meinem Buch ausführe.
Woher weiß man dies alles – gibt es dazu eine umfassende Studienlage?
Nein. Die Studienlage ist desaströs. Die erwähnten Beispiele sind nur Schlaglichter. Erst seit fünf Jahren bessert sich das etwas, aber der Nachholbedarf ist enorm.
Warum funktioniert und reagiert der weibliche Körper generell so anders als der männliche?
Hormone sind ein Faktor, aber bei Weitem nicht der einzige. Der weibliche Körper muss angesichts seiner Fähigkeit, Kinder auszutragen und zu gebären, auch anders sein – was den Stoffwechsel angeht, die Funktion vieler Organe und nicht zuletzt die Reaktion des Immunsystems, das während der Schwangerschaft ja einen Organismus tolerieren muss, der immunologisch verschieden ist.
Manche Unterschiede sind schon seit den 90ern bekannt. Warum geht die Medizin gar nicht darauf ein?
Ignoranz. Haben wir schon immer so gemacht. Fehlendes Bewusstsein für die Unterschiede und vor allem für die Gefahren, die damit verbunden sind. Im Medizinstudium wird kaum darauf eingegangen, in der Aus- und Weiterbildung auch nur selten.
Müssten Frauen bei denselben Erkrankungen immer anders behandelt werden oder gibt es auch Ausnahmen?
Es gibt hier riesige Forschungslücken, deswegen lassen sich bisher vor allem die beschriebenen Defizite aufzeigen.
Sie sagen, dass Medikamente bei Frauen oft zu hoch dosiert seien. Warum und bei welchen Krankheiten und Beschwerden benötigen Frauen geringere Dosen?
Die meisten Medikamente sind nur an Männern getestet. Stichproben zeigen, dass manche von ihnen bei Frauen weniger gut wirken, etwa bestimmte Mittel gegen Herzrhythmusstörungen und auch manche Schmerzmittel. Oft ist das aber noch gar nicht gut erforscht.
Ein großes gesundheitliches Thema bei Frauen sind die Wechseljahre. Früher wurden standardisiert Hormone verschrieben. Heute weiß man, dass diese das Risiko für Schlaganfälle, Herzinfarkte und Brustkrebs stark erhöhen können. Was ist denn die beste Lösung für Frauen, die unter Wechseljahresbeschwerden leiden? Und welche Alternativen zu Hormonen gibt es?
Die Zusatzrisiken der Hormone sind seit 2002 vielfach dokumentiert. Mehr Brustkrebs, mehr Infarkte, mehr Schlaganfälle. Stattdessen hilfreich sind viel Bewegung, ausgewogene Ernährung, regelmäßiger Schlaf, luftige Kleidung. Bei etwa einem Drittel der Frauen sind die Beschwerden trotzdem sehr stark. Wenn Hormone genommen werden, dann so kurz wie möglich und so niedrig dosiert wie möglich. Pflanzliche Substanzen haben zwar ein besseres Image, sind aber weniger erforscht, nicht so wirksam und daher oft auch keine wirkliche Hilfe.
Wie sieht es aus mit hormonellen Verhütungsmitteln bei Frauen, welche gesundheitlichen Risiken bergen diese? In den zurückliegenden Jahren wird hier ja viel zur Vorsicht gerufen.
Das wäre allein eine Antwort von zehn Seiten. Die Risiken von Pille und Co. sind bekannt, andererseits aber auch überschaubar. Das Thromboserisiko wird durch die Pille etwas erhöht, massiv aber erst, wenn Frauen zusätzlich rauchen, stark übergewichtig sind und sich wenig bewegen. Und die Risiken müssen immer abgewogen werden gegen Risiken durch unerwünschte Schwangerschaften. Immer mehr junge Frauen wollen statt der Pille die Spirale – aber das kann mit stärkeren Schmerzen und stärkeren Menstruationsbeschwerden einhergehen.
Risikoforscher Gerd Gigerenzer hat schon vor Jahren gezeigt, welche desaströsen Folgen die Warnung vor einer damals neuesten Pillengeneration in Großbritannien hatte. Gesundheitsbehörden verschickten seinerzeit alarmistische Briefe, in denen ein Anstieg des Risikos für Thrombosen um 100 Prozent prognostiziert wurde. Absolut gesehen bedeutete dies, dass statt einer von 7.000 Frauen unter der alten Pille bei zwei von 7.000 Frauen unter der neuen das Blut zu verklumpen drohte. Trotz des allenfalls marginalen Risikozuwachses setzten Zehntausende Frauen die Pille ab. Es kam in der Folge zu 13.000 zusätzlichen Abtreibungen im Vergleich zu den Jahren zuvor und etlichen ungewollten Schwangerschaften. Beides erhöhte die Wahrscheinlichkeit für Thrombosen weitaus mehr als die Pille.
Vor einigen Jahren war mal die Pille für den Mann im Gespräch. Warum wurde die Entwicklung nicht weiter vorangetrieben?
Sie wird vorangetrieben, es gibt Dutzende Forschungsansätze, die aber alle bisher nicht viel gebracht haben und unzuverlässig waren – mit Ausnahme der Vasektomie (Sterilisation), aber die ist recht endgültig …
Trotz aller gesundheitlichen Risiken werden Frauen dennoch oft älter als Männer. Warum ist das eigentlich so?
Der Vorsprung in der Lebenserwartung ist von sieben Jahren auf derzeit etwa 4,5 Jahre geschrumpft. Der Hauptgrund besteht darin, dass Männer (früher mehr als heute) riskantere Berufe ausüben, mehr rauchen und mehr Alkohol trinken und sich risikoaffiner verhalten – den Typ Bergarbeiter, der zwei Packungen Zigaretten am Tag geraucht, viel getrunken hat und selten zum Arzt ging, gibt es aber immer seltener. Frauen holen auf, was die schlechten Gewohnheiten angeht.
Biologisch wird der Östrogenschutz bis zu den Wechseljahren als Grund angeführt, dadurch bleiben die Gefäße länger offen und elastisch. Bei ähnlichen Lebensbedingungen (Beten, arbeiten, wenig Stress und zumindest offiziell kein Sex) schrumpft der Vorsprung aber auf nur etwa ein Jahr, wie Studien an Nonnen und Mönchen in Klöstern gezeigt haben.
Gibt es Unterschiede in der Kommunikation und dem Verhalten von Ärztinnen und Ärzten? Welche machen sich in der Praxis besonders bemerkbar, und wo kann hier angesetzt werden?
Rollenerwartungen und Vorurteile prägen die Arzt-Patientinnen-Kommunikation. Ärzte unterstellen Patientinnen oft, dass sie mehr Zeit brauchen, sich mit Erklärungen nicht zufriedengeben und ärztliche Anweisungen weniger befolgen. Zudem gelten sie als emotionaler und „komplizierter“ und beharren auf ihren eigenen Deutungen. Daraus entsteht oftmals eine unbewusste Abwehrhaltung, die schädlich für den Therapieerfolg und die Heilung ist. Zudem verkennen Ärzte bei Frauen eher körperliche Leiden, weil sie sie für rein „psychisch“ halten und organischen Symptomen weniger nachgehen. Es ist nachgewiesen, dass die Arzt-Patient-Beziehung zwischen Frauen und männlichen Ärzten schlechter ist, dass die Diagnosen weniger gut gesichert sind und dass bei einer Frau in der Praxis die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass eine schwerwiegende Erkrankung auch als solche erkannt wird. Und wenn doch, dann erst später.