Mode-Experten sehen in dem gebürtigen Londoner Saul Nash den wichtigsten Protagonisten einer neuen Form von Sportswear. Nicht zuletzt, weil der ehemalige Tänzer für diese Art von Bekleidung mit untypischen nachhaltigen Materialien experimentiert.

Der International Woolmark Prize, kurz IWP, ist ein alljährlich stattfindender Wettbewerb für Modedesign, bei dem sich alles um australische Merinowolle dreht. Gerade in der heutigen Zeit, in der man sich auf Nachhaltigkeit besinnt und daher wieder verstärkt Naturmaterialien zuwendet, ist das Konzept des IWP aktueller denn je geworden. Große Namen der Branche zählten zu den frühen Gewinnern, wobei das Jahr 1954 gleich zwei spätere Heroen der Designerzunft auf das Siegertreppchen führte. Die Jurymitglieder Pierre Balmain und Hubert de Givenchy gratulierten dem 17-jährigen Yves Saint Laurent zum ersten Preis in der Kategorie Kleider und dem 21-jährigen Karl Lagerfeld in der Kategorie Mäntel. Mit dem Wettbewerb sollte über die Förderung hochtalentierter Jungdesigner von Anfang an die Verbreitung von hochwertiger Wolle aus Australien, Neuseeland und Südafrika in der Modeindustrie gepusht werden. Zu den bekanntesten späteren Preisträgern gehörten Giorgio Armani, der 1989 und 1992 gleich zweimal triumphierte, Donna Karan oder Ralph Lauren in den frühen 1990er-Jahren.
Strickware neu interpretiert
Für das Finale des Jahres 2022 qualifizierten sich sieben der interessantesten Newcomer-Designer, darunter Priya Ahluwalia und Peter Do, die sich berechtigte Hoffnungen auf den Gewinn des Hauptpreises in Höhe von 200.000 australischen Dollars, umgerechnet etwa 130.000 Euro, machen konnten.
Doch zur allgemeinen Überraschung konnte ein gewisser Saul Nash den Wettbewerb für sich entscheiden. Nash ist ein Neuling in der Szene, der sein Label 2018 in London gründete und bis dahin mit seiner unkonventionellen Sportswear vor allem von Insidern wahrgenommen wurde. Die Verarbeitung von Wolle abseits der typischen Materialien wie Nylon oder Lycra dürfte für jeden Sportswear-Designer eine gewaltige Herausforderung darstellen. Nicht so für Saul Nash, der schon immer für seine Kreationen nach alternativen, nachhaltigen Textilien suchte. Deshalb meisterte er die Aufgabe, sechs Looks aus Merino-Wolle zu gestalten, problemlos. Zumal ihm wie allen weiteren Finalisten für die Realisierung der Klamotten 60.000 australische Dollars (rund 39.000 Euro) zur Verfügung gestellt wurden.
Riccardo Tisci, als langjähriger Burberry-Kreativchef einer der bekanntesten Juroren, lobte denn auch neben dem innovativen und bewegungsorientierten Ansatz vor allem Nashs Umgang mit dem Material Wolle: „Was Saul tat, aus einem Balletthintergrund kommend, um Lycra durch Wolle zu ersetzen, war wirklich unglaublich.“ Darüber hinaus wurde Nash attestiert, dass es ihm durch seine spezielle Interpretation der Strickware gelungen sei, eine Brücke zwischen der traditionellen Sportswear und formellerer Bekleidung zu schlagen, ohne dabei die DNA der Technical Sportswear aufzugeben.
Möglichkeiten eröffnen
Gerade einmal zehn Tage nach dem Gewinn des International Woolmark Prize konnte Saul Nash schon wieder absahnen. Aus den Händen von Kate Middleton erhielt der 30-jährige Nachwuchsdesigner im Mai 2022 im Londoner Design Museum den Queen Elizabeth II Award for British Design. Die britische Königin hatte den Preis im Jahr 2018 ins Leben gerufen, um damit alljährlich aufstrebende Designer auszuzeichnen, die sich nachhaltige Herstellungspraktiken auf die Fahne schreiben und sich für gesellschaftlichen Gemeinschaftssinn engagieren. Die gut gelaunte Herzogin von Cambridge im grünen Seidenkleid lobte Nash bei der Preisverkündung in den höchsten Tönen: „Es ist eine absolute Ehre, hier zu sein. Ich habe so viele inspirierende Geschichten über Ihre britische Kreativität und Ihren Erfolg gehört.“ Nash verschlug es ob dieser Worte fast die Sprache: „Ich hätte mir ehrlich gesagt nie träumen lassen, dass ich den Preis bekommen würde. Auf diese Weise anerkannt zu werden, ist ein unglaublicher Vertrauensbeweis.“ Es sei auch ein wichtiger Moment der Bestätigung für die Sportbekleidung im Allgemeinen. „Der Schwerpunkt meiner Arbeit lag immer darauf, neue Möglichkeiten zu eröffnen, von der Auseinandersetzung mit vorgefassten Meinungen über Sportbekleidung bis hin zum Versuch, die bisher gewohnte Wahrnehmung von Geschlechterrollen in der Herrenmode infrage zu stellen.“

Danach war es allerdings mit der vornehmen Zurückhaltung vorbei. Die Crowd von Nashs jugendlichen Künstlerfreunden und Anhängern stürmte jubilierend das Atrium und verströmte tanzend Feierlaune. Herzogin Kate ließ sich sogar zum Mitmachen animieren und begleitete die Party mit kräftigem Applaus. Als Begründung für die Überreichung der handgefertigten, überaus kostbaren Trophäe an Nash wurde auch dessen Rolle als „kultureller Innovator, dessen Arbeit Gespräche über Identität, Männlichkeit und Klasse“ eröffnen könne, hervorgehoben.
Doch noch wichtiger war natürlich sein bisheriges künstlerisches Schaffen: „Nash hat eine besondere Fähigkeit, Funktion, Technologie und Schneiderei in seiner Designpraxis zu kombinieren, was zu einer neuen Interpretation von Luxus-Sportkleidung geführt hat. Seine Arbeit erforscht die Beziehung zwischen Performance und Menswear und wird oft durch schöne und atemberaubende Choreografien präsentiert. Wir sind unglaublich stolz darauf, Saul zu würdigen, und freuen uns darauf, seine Marke wachsen zu sehen.“ Schon 2021 war Saul Nash Halbfinalist beim renommierten LVMH-Preis für junge Modedesigner gewesen, 2022 war ihm dann der große Schlag gelungen. Wobei ihm bei der Entwicklung seines Brands, den er wahlweise „Saul Nash“ oder „Luas“ (sein Vorname rückwärts geschrieben) zu nennen pflegt – beide Bezeichnungen tauchten auch auf dem offiziellen Unternehmensgründungsformular auf –, Zahlungen aus dem sogenannten New-Gen-Programm des British Fashion Council zugutekamen.
Schon seit 1993 werden damit junge Designer-Talente finanziell unterstützt, um sie möglichst schnell, wie in der Vergangenheit Alexander McQueen oder auch Jonathan Anderson, an die Fashionspitze heranzuführen. Seine ersten Auftritte auf der internationalen Bühne im Rahmen der London Fashion Week Men konnten zudem als Teil des von Lulu Kennedy initiierten Fashion-East-Projekts realisiert werden.
Erstmals war der Menswear-Newcomer auf einer Gemeinschaftsshow für seine Frühjahr-Sommer-Kollektion 2020 in London vertreten, wofür ihm ein Stipendium, eine kostenlose Location sowie eine komplette Catwalk-Produktion zur Verfügung gestellt wurden.
Seine erste Solo-Präsentation lieferte er mit seiner Kollektion für Frühjahr-Sommer 2022 ab. Allerdings begann sich schnell abzuzeichnen, dass die Zuweisung seiner Kreationen zur Herrenmode sich in Richtung Unisex abzuwandeln begann, was bei Sportswear nicht weiter verwunderlich sein dürfte. Auf dem Laufsteg tauchten daher auch einige weibliche Models in Nash-Klamotten auf.
Studium am Royal College of Art

Geboren wurde Saul Nash im Dezember 1992 in Hackney, einem östlichen Stadtteil von London. Er selbst verkündet lieber, dass er als britischer Staatsbürger mit karibisch-guayanischen Wurzeln aus „Nordost-London“ stamme, weil er damit einen viel größeren Bezirk umreißen kann, in dem er sich, meist verbunden mit diversen Umzügen, in seiner Kindheit und Jugend herumgetrieben hat. Es war ein ziemlich multikulturelles Umfeld, das ihn nach eigenen Angaben stark prägte. Wobei er sich schon früh für das Tanzen interessierte: „Ich habe tatsächlich in meinem örtlichen Jugendclub angefangen zu tanzen, als ich noch ganz jung war. Und meine Mutter hat mich wirklich zum Tanzen ermutigt.“ Seine Vorliebe für Sportswear wurde gewissermaßen aus persönlichen Erlebnissen geboren. „Ich erinnere mich, dass ich in der Schule war und eines Tages ausgelacht wurde, weil ich eine Skinny Jeans getragen hatte. Danach wurde Sportkleidung aus der Not heraus zu einem festen Bestandteil meiner Garderobe.“ Dem Tanz blieb Nash gegen alle Pöbeleien weiterhin treu: „Ich bin Tänzer, auch meine heutige Arbeit wird noch immer inspiriert von meinen Erfahrungen und Erinnerungen an die Männer, mit denen ich in London aufgewachsen bin. Mein Schaffen und meine Performances beziehen daher Freunde mit ein. Und es ist ganz entscheidend, dass es ein starkes Gemeinschaftsgefühl unter den Menschen gibt, die an meinen Shows beteiligt sind.“
Zunächst sah es nicht danach aus, als würde sich Nash der Mode zuwenden. Zunächst legte er 2011 den Zwischenschritt eines Performance-Design-Studiums am berühmten Londoner Central Saint Martins ein und machte 2015 mit dem Bachelor of Arts erfolgreich seinen Abschluss. Bei diesem speziellen Studiengang erwarb er sich seine Fähigkeiten auf dem Feld der Choreografie, der gekonnten Live-Auftritte und dramaturgischen Inszenierungen. Dank eines Stipendiums konnte er 2016 auch noch ein Masterstudium in Menswear am renommierten Londoner Royal College of Art anschließen. Wenige Monate nach dem Abschluss gründete er sein eigenes Label, das sich zwangsläufig, weil Nash auch heute noch privat praktisch nur Sportkleidung zu tragen pflegt, der Sportswear zuwandte. Weil aber Bewegung aus seiner Tanzvergangenheit für ihn eine ganz zentrale Rolle spielte, sollten auch seine Klamotten die maximale Bewegungsfreiheit des Trägers garantieren. Und irgendwann wollte er unbedingt seine karibischen Wurzeln mit verarbeiten. „Mein karibisches Erbe muss immer durch die Linse von jemandem gesehen werden, der in London aufgewachsen ist und in London lebt.“
Angespornt von Nashs Ausbildung als Tänzer sind seine Kleidungsstücke gewissermaßen auf Performance, Kinetik, Komfort und Bewegung ausgerichtet und zeichnen sich durch eine Hybridisierung zwischen herkömmlichen Trainingsklamotten und klassischer Schneiderei aus. „Ich wusste“, so Nash, „dass ich Performance und Mode miteinander verschmelzen wollte. Aber erst als ich Performance-Kleidung entdeckte, machte das Ganze einen Sinn, weil ich selbst immer Sportkleidung getragen hatte.“
Kooperation mit Mercedes-Benz
Als Ergänzung seines Modeschaffens hat sich Nash dem Medium Film zugewandt. Und lässt dabei seine Kreationen in Kurzfilmen aufscheinen, die nicht nur für die Welt der Sportswear ungewöhnliche Emotionen auslösen können, sondern potenziellen Käufern auch vor Augen führen sollen, wie sie sich am besten in den Klamotten bewegen können. Für die Filmproduktionen mit Titeln wie „Static Motion“, „Shelter“, „Twist“ (mit zwei sich küssenden Männern zur Präsentation der Herbst-Winter-Kollektion 2021/2022 mit gepolsterten Mänteln und Westen aus leichtem Primaloft, Jersey-Oberteilen mit Fleecerücken oder fleischblinkenden Nylon-Jogginghosen) oder „Ritual“ kann Nash auf die Mitwirkung des Regisseurs Fx Goby vertrauen, der auch sein aktueller Lebenspartner ist. Das Coming-out als schwuler Mann ist Nash nach eigenem Bekunden alles andere als leicht gefallen.

Nashs Sommerkollektion 2022 zeigte Inspirationen aus seiner eigenen Schulzeit mit Anklängen an Schul- und College-Uniformen. Für seine aktuelle Herbst-Winter-Kollektion hat Nash, der inzwischen auch schon mit Nike oder Mercedes-Benz kooperierte, in Zusammenarbeit mit dem niederländischen Knitwear-Spezialisten Lab an Hightech-Kompressionsteilen aus Merinowolle gearbeitet. „Zum ersten Mal konnte ich erkennen“, so Nash, „dass das Schöne am Stricken darin besteht, dass ich Jacquards verwenden kann, die immer noch den athletischen Look haben, dabei ist der Stoff aber immer noch atmungsaktiv, natürlich antibakteriell und gibt beim Waschen keine Mikrofasern in das Wassersystem ab. Das Material ähnelt in der Verarbeitung traditioneller Handwerkskunst wie dem Stricken oder Häkeln, aber es ist auf technische Weise mit modernen Maschinen hergestellt.“ Das kann eine schwarze, maßgeschneiderte Jacke aus technisch hergestellter Wolle sein, wobei die Reißverschlüsse ablösbar sind, um das Ganze dann in eine Weste mit Mesh-Schultern verwandeln zu können. Auch ein grauer, gepolsterter Flanellmantel zählt dank seines raffinierten Schnitts zu den Highlights der Kollektion. Einige Trainingsanzüge weisen mit ihrer grünen Farbgebung – analog zur Nationalflagge Guyanas – oder mit Meerjungfrauen-Prints auf die Karibik hin, was sich auch am Drehort des Begleitfilms niedergeschlagen hat, nämlich dem ersten westindischen Friseursalon Londons.