Die sogenannte Priscus-Liste von Arzneimitteln mit erhöhtem Risiko für Ältere wurde kürzlich aktualisiert. Nach der neuen Version erhielt im Jahr 2022 jeder zweite Bundesdeutsche über 65 Jahre potenziell unangemessene Medikamente (PIM).
Seit der US-Geriater Mark H. Beers 1991 erstmals eine auf den amerikanischen Arzneimittelmarkt zugeschnittene Liste „potenziell inadäquater Medikamente“ (PIM) zusammengestellt hatte, die Menschen über 65 Jahre wegen vermehrter unerwünschter Nebenwirkungen möglichst nicht erhalten sollten, schien sich bei der ärztlichen Verordnung vieles zum Besseren gewendet zu haben. In Deutschland hat es allerdings ziemlich lange gedauert, bis auch hierzulande – bis 2010 – dass unter Federführung von Prof. Petra Thürmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische Pharmalogie der Universität Witten/Herdecke – eine entsprechende Medikamenten-Auflistung erstellt wurde. Diese wurde auf den Namen „Priscus“ getauft, abgeleitet vom lateinischen Wort für „alt“ oder „altehrwürdig“. Die erste Priscus-Liste umfasste 83 Wirkstoffe aus 18 Wirkstoffgruppen und sollte sich schnell als wichtiges Hilfsmittel für Ärzte und Apotheker zur Identifizierung von Substanzen mit Risikopotenzial für Senioren etablieren. Die Liste enthielt außerdem auch konkrete Hinweise auf etwaige Folgen der Verschreibung von PIM und stellte Alternativpräparate mit weniger Nebenwirkungen vor.
177 Wirkstoffe auf der Liste
Ältere Menschen über 65 Jahre sind in der bundesdeutschen Gesellschaft aufgrund des demografischen Wandels eine stetig wachsende Gruppe – mit einem Anteil von derzeit 22,4 Prozent der insgesamt 72,4 Millionen gesetzlich Krankenversicherten. „Ihre Arzneimittelversorgung ist geprägt durch die ansteigende Zahl der Erkrankungen im Alter; die Anzahl der verordneten Arzneimittel nimmt damit mit zunehmenden Alter deutlich zu. Im fortgeschrittenen Alter verändert sich zudem die Wirkung von Arzneimitteln im Körper. Dies kann zu potenziell inadäquater Medikation (PIM) und damit zu einem Anstieg von unerwünschten Arzneimittelereignissen und nicht zuletzt zu einer erhöhten Mortalität führen“, so das Problemfazit im „Arzneimittel-Kompass 2022“. Die Einnahme zahlreicher Medikamente ist im fortgeschrittenen Lebensalter mit einem erhöhten Risiko für Nebenwirkungen verbunden. Das könnte damit zusammenhängen, dass diese Medikamente im Alter langsamer ausgeschieden werden und somit länger oder auch stärker im Körper wirken und empfindlichere Reaktionen auslösen können. „Hinzu kommt“, heißt es im PIM-Kapitel des „Arzneimittel-Kompass 2022“, „die Multimorbidität (das gleichzeitige Auftreten beziehungsweise Bestehen mehrerer Krankheiten; Anm. d. Red.) und daraus folgende Multimedikation, das heißt, bei jedem Medikament muss darauf geachtet werden, ob es wenigstens nicht bei Begleiterkrankungen schädlich ist und mit den anderen Medikamenten keine Wechselwirkungen bestehen.“
Erfreulicherweise hatte sich der prozentuale Anteil der PIM-Verordnungen an ältere Menschen im Kontext der medikamentösen Gesamtverschreibungen trotz absolut steigender Präparatmengen deutlich reduziert, im Jahr 2021 lag der Wert laut dem „Arzneimittel-Kompass 2022“ nur noch bei gut zwölf Prozent. Daher war es ziemlich überraschend, als das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) im September 2023 eine Analyse vorlegte, wonach jeder zweite Bundesbürger über 65 Jahre, insgesamt 8,3 Millionen ältere Menschen, im Jahr 2022 mindestens einmal ein PIM-Medikament verordnet bekommen hatte. Da sowohl die Angaben des „Arzneimittel-Kompass 2022“ als auch die WIdO-Analyse auf den gleichen Daten beruhen – nämlich einer bundesweiten Hochrechnung der PIM-Verordnungen aller gesetzlich Versicherten auf Basis der breiten AOK-Werte –, schien das ein unverständlicher Widerspruch zu sein. Es gibt dafür jedoch eine einfache Erklärung: Die neuen Angaben über die hohe Zahl der betroffenen Senioren beruhen auf der 2022 (wieder unter Federführung von Prof. Petra Thürmann) aktualisierten „Priscus 2.0“-Liste, die wesentliche Veränderungen und Erweiterungen im Vergleich zur ursprünglichen Aufstellung aus dem Jahr 2010 enthält und nun 177 Wirkstoffe aufführt. Der neu ermittelte Anteil der PIM-Verordnungen an ältere Patienten ist laut Prof. Thürmann zwar „erschreckend hoch“, zumal er lange Zeit bei Werten zwischen 15 und 25 Prozent gelegen habe. Der deutliche Anstieg aber lasse sich ganz einfach auf die neue Priscus-Liste zurückführen.
Vor allem die Aufnahme der in der ärztlichen Verschreibungspraxis weit verbreiteten Protonenpumpenhemmer (PPI) – sofern deren Verordnungsdauer acht Wochen überschreitet – hat den Hauptanteil am Anstieg der PIM-Verschreibung an Senioren. Jede zweite PIM-Verordnung betrifft die zur Langzeittherapie eingesetzten PPI. Bei den PPI handelt es sich um Medikamente, die die Sekretion von Magensäure hemmen, aber bei Dauergebrauch mit Risiken wie Pneunomien (Lungenentzündung), speziellen Darmerkrankungen oder Osteoporose (Knochenschwund) verbunden sein können. PPI werden gemeinhin bei Beschwerden wie saurem Aufstoßen verschrieben, aber auch bei Vorliegen eines manifesten Magen-Darm-Geschwürs. Ebenso zur Prävention von Magenblutungen bei gleichzeitiger Einnahme von Schmerzmitteln oder Blutgerinnungshemmern kommen sie oft zum Einsatz.
Regelmäßigere Updates geplant
Auch die Aufnahme einiger oraler Antidiabetika, Antidepressiva sowie Urologika zur Behandlung von funktionellen Blasenstörungen sind wesentliche Neuerungen in der „Priscus 2.0“-Liste. „Mit dem nächsten Update wollen wir nicht wieder zwölf Jahre warten“, macht Prof. Thürmann deutlich. „Die ursprüngliche Liste“, sagte sie im Bayerischen Rundfunk, „hatte einen Schwerpunkt auf Psychopharmaka, also Medikamente gegen Depression, aber auch gegen andere neurologische und psychiatrische Störungen. Jetzt haben wir auch einige Blutdrucksenker, Medikamente gegen erhöhten Blutzucker, also Antidiabetika, mit dabei, die vor allem bei älteren Menschen das Risiko für Unterzuckerungen erhöhen.“ Und eben auch die schon genannten Protonenpumpenhemmer. Wobei es bei der Liste nicht darum gehe, älteren Menschen verabreichte Wirkstoffe in Kategorien wie „gut“ oder „schlecht“ einzuteilen, weil es letztendlich immer auch eine Frage von Dosierung und Anwendungsdauer sei. Aber bei manchen Wirkstoffen oder Medikamenten gebe es bei Senioren eben ein etwas ungünstigeres Verhältnis zwischen Wirksamkeit und möglichen Nebenwirkungen. „Wir hatten ursprünglich nach Veröffentlichung der ersten Priscus-Liste Zahlen“, so Prof. Thürmann im BR, „dass etwa 20 bis 25 Prozent der älteren Menschen ein Medikament von der Liste wenigstens einmal im Jahr verordnet bekommen. Und diese Zahlen sind letztlich zwischen zehn und 15 Prozent zurückgegangen.“ Man hoffe nun mit der neuen „Priscus 2.0“-Liste auf einen ähnlich positiven Effekt.
Was mit Blick auf die WIdO-Analyse, die auf Basis der an 16,4 Millionen ältere gesetzlich Krankenversicherte verschriebenen Arzneimittel erstellt wurde, auch durchaus nötig sein dürfte: Demzufolge waren im Jahr 2022 immerhin 12,3 Prozent aller an ältere Menschen verordneten Tagesdosen potenziell ungeeignet. Mit einem exakt ermittelten Anteil von 50,3 Prozent ist jeder zweite ältere gesetzlich Krankenversicherte davon betroffen, wobei ältere Frauen deutlich mehr PIM-Verschreibungen erhalten hatten als Männer. „Die Arzneimittelversorgung der über 65-Jährigen ist geprägt durch die steigende Zahl der Erkrankungen im Alter und die Behandlung mehrerer, parallel vorliegender Krankheiten“, so WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder. Daher nehme die Anzahl der gleichzeitig verschriebenen Arzneimittel mit steigendem Alter immer weiter zu. 43 Prozent der Versicherten über 65 Jahre würden daher mit mehr als fünf verschiedenen Wirkstoffen gleichzeitig behandelt. „Ein großer Teil dieser Verordnungen ist leitliniengerecht“, so Prof. Thürmann. „Aber Leitlinien sind immer nur auf eine bestimmte Krankheit ausgerichtet. Viele Leitlinien adressieren das Problem der Multimorbidität und ‚konkurrierender‘ Erkrankungen nicht ausreichend.“
Für eine schnelle Adaption der neuen Priscus-Liste hat das WIdO eine kompakte Zusammenstellung der „Priscus 2.0“-Wirkstoffe als Arbeitshilfe für Ärzte zum Download im AOK-Gesundheitsportal erstellt. Zudem kann die komplette „Priscus 2.0“-Liste kostenlos beim WIdO angefordert werden. Auch eine aktuelle Patienteninformation des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zu diesem Thema kann abgerufen werden.