Die proeuropäische Partei Volt hat bei der Europawahl ihre Stimmen verdreifacht und ist ein Wahlsieger – wenn auch ein kleiner. Mit drei deutschen und zwei niederländischen Abgeordneten will die junge Partei im neuen Europaparlament arbeiten.
Es ist ein sonniger Sonntagnachmittag in Charlottenburg und „Sei kein Arschloch!“ verschwindet in einem Kofferraum. „Für mehr Eis!“ und „Trau dich Europa!“ auch. Zwei junge Leute sammeln die lilafarbenen Wahlplakate der Partei Volt ein, auf denen diese Botschaften einige Wochen lang für Aufmerksamkeit sorgen sollten. Der Wahlkampf ist vorbei. Europa hat sich nicht wirklich getraut. Die Parteien, die auf nationale Politik setzen und Europa als Bürokratiemonster, das man in Schach halten müsse, darstellen, haben deutlich zugelegt. Da dürfe man sich nichts vormachen, die Anti-Europäer sind stärker geworden, sagt Nela Riehl. Dennoch sei zumindest das deutsche Ergebnis auch fantastisch, findet die 38-Jährige – und das nicht nur, weil sie selbst dem neuen Europäischen Parlament angehört. Die Lehrerin aus Hamburg ist am 9. Juni als Volt-Spitzenkandidatin in Deutschland angetreten – zusammen mit Damian Boeselager, einem der Volt-Gründer und dem bislang einzigen Europaabgeordneten der Partei. Volt konnte ihren Stimmanteil bei der Wahl in Deutschland von 0,7 im Jahr 2019 auf 2,6 Prozentpunkte steigern.
Für mehr Europa statt weniger
Das reicht für drei Mandate. Außer Damian Boeselager und Nela Riehl zieht auch Kai Tegethoff ins Europaparlament ein, ein Kommunalpolitiker, der sich bisher vor allem im Braunschweiger Stadtrat engagiert hat. Zwei weitere Abgeordnete kommen aus den Niederlanden, wo Volt 4,9 Prozent der Stimmen holte: Anna Strolenberg und Reinier van Lanschot.
Gemeinsam wollen die Fünf in Brüssel und Straßburg europäische Interessen vertreten – nicht deutsche oder niederländische. Denn Volt, erklärt Nela Riehl, ist „keine proeuropäische, sondern eine gesamteuropäische Partei“. „Trau dich Europa“ sollte den Wählerinnen und Wählern „Mut machen, sich für ein gemeinsames Europa und gegen Nationalismus zu entscheiden“.
Volt will ein föderales Europa, in dem europäische Parteien den Ton angeben, und keine nationalen. Eine Föderation, in der das europäische Parlament das wichtigste demokratische Gremium ist. Geleitet werden soll diese Europäische Union nicht wie zurzeit von einer Kommission, deren Vertreterinnen und Vertreter die Regierungschefs der Mitgliedstaaten erstmal unter sich aushandeln, sondern von einem europäischen Premierminister oder einer Premierministerin, der oder die vom Parlament gewählt wird.
Volt streitet für eine neue EU-Verfassung und für ein europäisches Verfassungsgericht, das die Befugnis hat, nationale Gesetze, die dieser Verfassung zuwiderlaufen, „für ungültig zu erklären“. Das europäische Parlament soll nicht nur wie bisher über Pläne der Kommission abstimmen, sondern eigene Gesetze einbringen dürfen, die – wenn sie beschlossen werden – für die ganze EU verbindlich sind. „Das nationale Vetorecht wird abgeschafft“, formuliert Volt die Konsequenz daraus.
Es soll auch einen europäischen Finanzminister geben. Der habe unter anderem dafür zu sorgen, dass Gewinne dort versteuert werden, wo sie erwirtschaftet werden – also nicht in dem Teil der EU, in dem die Steuern gerade niedriger sind als in einem anderen. Damit es gerecht zugeht, soll ein Mindest-Körperschaftssteuersatz von 22 Prozent in ganz Europa gelten. Auch die Gewinne internationaler Digitalunternehmen müssen in Europa versteuert werden, wenn sie da erwirtschaftet werden, fordert Volt.
Wenn Europa zusammenwachsen soll, dann müsse man auch eine Sprache sprechen, in der sich möglichst viele Menschen verständigen können. Deshalb fordert die junge Partei, dass alle EU-Staaten neben der Landessprache Englisch als zweite Amtssprache einführen.
Nicht nur bei der europäischen Einigung will Volt mehr und schnellere Bewegung. Auch in Sachen Klimaschutz fordert die Partei mehr Tempo: eine klimaneutrale Energieversorgung bis 2035, „eine zu 100 Prozent klimaneutrale Wirtschaft bis 2024“. Das sei machbar, wenn man Netze schaffe, die etwa Sonnenenergie aus Spanien und Windenergie aus Norwegen überall nach Europa bringen. Klar sei auch: Subventionen für Kohle, Steuerbefreiungen für Flugbenzin und für Dieselkraftstoff müssen gestrichen werden. Stattdessen müsse mehr Geld in die Forschung fließen. In Anspielung aufs Abschmelzen des Polar-Eises resultiert daraus auch die Forderung nach „mehr Eis“.
Statt „klimaschädliche Subventionen“ zu zahlen, soll das Geld auch für ein europäisches Hochgeschwindigkeits-Schienennetz ausgegeben werden. Außerdem sollen Projekte zur Energieerzeugung von Bürgerinnen und Bürgern vor Ort unterstützt werden. Mit diesen Forderungen ist Volt sehr nah an den Positionen der Grünen. Es wundert daher nicht, dass sich die fünf Volt-Abgeordneten der Grünen-Fraktionsgemeinschaft im Europaparlament angeschlossen haben.
„Wenn man sich keiner Fraktion anschließt, ist man nicht arbeitsfähig“, erklärt Nela Riehl diese Entscheidung. Dennoch bleibe man eine eigenständige Partei. „Wir sehen Innovation und Digitalisierung als eine größere Chance, als die Grünen das tun“, sagt die neue Abgeordnete.
Parteigründung als Reaktion auf den Brexit
Die EU müsse dazu beitragen, dass Europa „Vorreiterin für Innovation“ wird. Dazu müsse man dafür sorgen, dass Start-up-Unternehmen bessere Bedingungen haben. Das heiße auch: mehr Geld. Neben EU-Förderprogrammen denkt Volt auch daran, dass Großinvestoren künftig verpflichtet werden, mindestens fünf Prozent ihrer Mittel in Start-ups zu investieren. Und weil das alles viel mit Digitalisierung zu tun hat, sei es auch Aufgabe der EU klare Spielregeln festzulegen und dafür zu sorgen, dass die auch in der digitalen Welt eingehalten werden.
Europa müsse ein Ort des „sozialen Zusammenhalts“ werden. Das gelte nicht nur für die Menschen, die hier bereits leben. Man müsse Flüchtlinge fair behandeln und nicht im Mittelmeer ertrinken lassen, fordert Volt. Asylpolitik müsse menschlich sein.
„Wir sind das lebendige Gegenmittel zu den menschenfeindlichen, antidemokratischen und anti-europäischen Positionen der AfD. Diese Partei schürt Ängste, spaltet die Gesellschaft und verbreitet Hass. Das ist eine reale Gefahr für unsere Gesellschaft. Unser Europa ist positiv, demokratisch und inklusiv, in dem jeder Mensch unabhängig von Herkunft oder Identität gleiche Rechte und Chancen hat“, heißt es im Wahlprogramm. Und das ist auch für Nela Riehl der Anspruch an ihre Arbeit im Parlament. Sie gibt sich kämpferisch: „Nur gemeinsam können wir nicht nur das Schlimmste verhindern, sondern das Beste ermöglichen: ein starkes, klimaneutrales, innovatives und gerechtes Europa.“
Dass bei dieser Wahl viele Bürgerinnen und Bürger das alles ganz anders sahen, mache die Aufgabe größer. Wobei sie selbst nun recht unvermutet vor dieser Aufgabe stehe, sagt Nela Riehl. Denn: „Es hat nie zu meinem Lebensplan gehört, Spitzenkandidatin zu werden und ins Parlament zu gehen.“ Sie ist erst im März vergangenen Jahres in die Partei eingetreten. Und sie habe schnell gespürt, was es heißt, „eine Partei für alle von allen“ zu sein. Als sie kandidierte, ging es um das, was sie politisch umsetzen will. Darum, was man ihr, der Mutter und Studienrätin mit Wurzeln in Deutschland und Ghana, zutraut. „Mich hat niemand gefragt, wie lange ich schon in der Partei bin. Oder: Hatte Dein Opa da auch schon einen Posten?“
Die Gründung von Volt, erklärt die neue Abgeordnete, war eine Reaktion auf den Brexit. Vor allem junge Europäerinnen und Europäer haben sich zusammengeschlossen, weil sie sich nicht damit abfinden wollten, dass Nationalisten das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. „Nicht der Rückzug in den Nationalismus, sondern das geeinte Europa ist die Zukunft“, fasst Nela Riehl das zusammen, wofür sie in den kommenden fünf Jahren arbeiten will. „Es geht darum, Haltung zu zeigen und aktiv gegen Rechtsextremismus, Populismus und Menschenfeindlichkeit zu stehen. Denn ein Arschloch ist nur, wer trotz besseren Wissens eine Politik unterstützt, die auf Ausgrenzung und Hass basiert“, formuliert es ihre Partei. Deshalb habe man auch diese Bitte plakatiert: „Sei kein Arschloch!“