Ein derzeit laufendes Projekt soll die Sicherheit der Arzneimitteltherapie deutlich verbessern: „TOP“ soll an der Schnittstelle von Klinik und Arztpraxis ansetzen. Die Barmer sowie die beteiligten Kliniken finden die „Transsektorale Optimierung der Patientensicherheit“ selbst top – doch was hat es damit auf sich?

Transsektorale Optimierung der Patientensicherheit“ – der Begriff ist vielleicht einer der undankbarsten überhaupt, um einen Artikel zu beginnen. Dunja Kleis bringt das Sujet daher etwas kürzer und prägnanter auf den Punkt: „Wir verbessern die Sicherheit der Arzneimitteltherapie, wenn Patienten ins Krankenhaus kommen.“ Die Landesgeschäftsführerin der Barmer in Rheinland-Pfalz und im Saarland erläutert, dass zu neu aufgenommenen Patientinnen und Patienten oft Angaben zur Behandlung von Krankheiten und dazu verordneten Arzneien fehlen würden. Dies könne zu gefährlichen Situationen führen, wenn die Patienten ins Krankenhaus kommen – und dort natürlich ebenfalls medikamentös behandelt werden.
Gerade bei mehreren Erkrankungen und einer Versorgung durch verschiedene Ärztinnen und Ärzte steige das Risiko für gesundheitsgefährdende Fehler. Daher sollen im Projekt „Transsektorale Optimierung der Patientensicherheit“ (TOP) die digitalen Möglichkeiten genutzt werden. Mithilfe einer Software erhalten die teilnehmenden Krankenhäuser von der Krankenkasse die Informationen über die Medikamente, die den Patienten in den vergangenen drei Jahren durch Ärztinnen und Ärzte verordnet und von der Krankenkasse bezahlt wurden. „So weiß das Krankenhaus sofort, was für Medikamente sie bekommen, und kann das bei der weiteren Therapie natürlich berücksichtigen“, so Dunja Kleis.
Software übermittelt Liste der Arzneien
Durch TOP soll also alles Wichtige zur medizinischen Vorgeschichte aus Routinedaten der Krankenkasse an die behandelnden Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus übermittelt werden – und dies ohne Zeitverzug, schließlich spielt Zeit in den allermeisten Fällen eine Rolle. Die Ärzte erhalten eine Liste aller verordneten Arzneien und werden durch besagte Software auf Risiken hingewiesen. In der ambulanten Versorgung gibt es derzeit fast 2.000 Wirkstoffe, die in 445.000 Kombinationen verordnet werden. Diese Vielfalt kann niemand ohne elektronische Unterstützung beurteilen. Sie erklärt: „Das kann niemand alles im Kopf haben, was es für Wechselwirkungen gibt – auch kein Arzt.“
TOP erhöhe die Sicherheit für Patientinnen und Patienten, die mindestens fünf Medikamente einnehmen. Diejenigen, die eine komplexe und riskante Arzneimitteltherapie erhielten, würden in chirurgischen Abteilungen durch eine Stationsapothekerin oder einen -apotheker mitbetreut. Sie unterstützten auch den Entlassungsprozess, damit beim Wechsel zurück in die hausärztliche Betreuung keine Informationen verlorengingen. TOP ist Teil der Gesamtstrategie der Barmer für mehr Sicherheit bei der Arzneimitteltherapie. Die AOK Nordost ist Projektpartner, praktisch erprobt wird das Projekt bundesweit in 14 Kliniken, zwei davon im Saarland: das Klinikum Saarbrücken und die SHG-Kliniken Völklingen.

Am Winterbergklinikum befasst sich beispielsweise Prof. Dr. Daniel Grandt, Chefarzt der Inneren Medizin I, schon seit vielen Jahren mit dem Thema, sowohl wissenschaftlich als auch medizinisch. Er sagt: „Eine vom Deutschen Krankenhausinstitut durchgeführte Befragung von Krankenhäusern in Deutschland hat gezeigt, dass bei vier von fünf Notfallpatienten für Behandlungsentscheidungen wichtige Informationen zum Patienten fehlen. Studien zeigen, dass diese Informationsdefizite häufig Ursache von Medikationsfehlern sind. Obwohl Krankenhausärzte im Durchschnitt 22 Minuten pro Patient aufwenden, um fehlende Informationen zu recherchieren, bleibt die Übersicht über Erkrankungen und aktuelle Arzneimitteltherapie oft lückenhaft. Arzneimitteltherapie im Blindflug aber ist ein unkalkulierbares Risiko. Das Projekt TOP behebt dieses Problem.“
Dr. Christian Braun, Geschäftsführer und Ärztlicher Direktor des Klinikums Saarbrücken, fügt hinzu: „Durch seine Expertise, aber auch von der praktischen Umsetzung dieser Themen profitiert natürlich das Klinikum Saarbrücken.“ So wurden Strukturen geschaffen, das Thema auf breitere und fundiertere Füße zu stellen, unter anderem durch die Implementierung und Nutzung einer elektronischen Verordnungsunterstützung. Dabei handelt es sich um ein Programm, das die Medikation überprüft. Sowohl, was die Dosierung angeht, aber auch dahingehend, ob die Medikamente zueinander passen. Zudem sei es natürlich wichtig, patientenspezifische Informationen wie eine Einschränkung der Nierenfunktion oder der Leber im Blick zu behalten. Auch Dinge wie Größe und Gewicht würden betrachtet.
Veränderungen auf Systemebene erhofft
Es gehe schlicht darum, möglichst viele Informationen über einen Patienten und seinen Krankheitsverlauf zu haben. Er erläutert: „Unsere Ärztinnen und Ärzte sollen bestmöglich informiert sein über die Medikamente, deren Kombinationen, über die Wechselwirkungen und natürlich über die Möglichkeiten der individuellen Anpassung.“ Das Klinikum erhoffe sich von dem Projekt auch Veränderungen auf der Systemebene. Denn: „Wir haben ja immer noch Sektorengrenzen.“ Doch wie kommen die Informationen bestmöglich vom Hausarzt zum Facharzt, also in diesem Fall ins Krankenhaus? Mit welcher Medikation geht ein Patient wieder zurück in den ambulanten Sektor? An diesen Sektorengrenzen entstünden schnell Bruchstellen. Doch es sei ebenso wichtig, dass auch niedergelassene Ärzte bestmögliche Infos haben.
Einen „sehr großen Fortschritt gegenüber der bisherigen Situation“ sieht Prof. Harald Schäfer, Chefarzt der Medizinischen Klinik II und langjähriger Ärztlicher Direktor an den SHG-Kliniken Völklingen. Er betont, dass in der Regel, wenn ein Patient notfallmäßig in die Klinik komme, keine oder nur rudimentäre Befunde und Voruntersuchungsdaten oder Informationen über die Medikation vorliegen würden. Zudem handele es sich dabei oft um ältere und zum Teil multimorbide Patienten mit mehreren Medikamenten. Die Informationsbeschaffung erfordere dann einen zeitraubenden Mehraufwand für das Krankenhauspersonal.

Das habe unter anderem damit zu tun, dass seit rund 20 Jahren über eine elektronische Patientenakte diskutiert werde, ohne dass es substanzielle Fortschritte in der Versorgung gegeben habe. „Das muss man leider so konstatieren“, so Prof. Harald Schäfer. Durch TOP habe man eine Voraussetzung geschaffen – nämlich die Einverständniserklärung des Patienten –, dass man die medizinischen Daten, die bei der Krankenkasse gespeichert sind, abrufen könne und sie dann in der Software immer vorliegen habe, ob in der Notaufnahme, im Untersuchungszimmer oder auf der Station. „Das ist sicherlich ein ganz entscheidender Fortschritt und Vorteil“, so der Chefarzt.
Die SHG-Kliniken sind unter anderem deswegen bei dem Projekt TOP dabei, weil sie schon seit einiger Zeit eine elektronische Medikationssoftware einsetzen, die unter anderem auch dazu dienen soll, kritische Medikamenten-Interaktionen zu erkennen und zu vermeiden. Als erste Klinik im Saarland betrieb man bereits eine maschinelle Einzelverblisterung der Medikamente, es wurden also Arzneimittel eines Patienten in Einzelportionen nach ärztlich verordneter Dosierung zusammengestellt und verpackt, zur Verabreichung zu festgelegten Zeitpunkten. Dies seien bereits wichtige Schritte zur Verbesserung der Patientensicherheit im Rahmen der Arzneimitteltherapie. Mit dem TOP-Projekt ergebe sich jetzt die Möglichkeit, eine weitere Stufe der Verbesserung im Bereich der Medikationssicherheit zu erreichen. „Und deswegen haben wir gesagt: Okay, das ist ein sinnvolles Projekt, und da würden wir gern mitmachen.“
Diesen Sinn sieht Dunja Kleis statistisch bestätigt: „Wir hatten in unserem Arzneimittelreport analysiert, dass rund sieben von zehn Patienten ihren Medikationsplan gar nicht dabeihatten. Ein weiteres Problem war, dass ein Drittel der Medikationspläne auch nicht vollständig war.“ Das lag zum Beispiel daran, dass der Hausarzt gar nicht wusste, dass parallel noch ein anderer Arzt besucht wurde, allerdings nicht immer aufgrund einer Überweisung. „Und wenn der Hausarzt nicht weiß, dass noch ein anderer Arzt verordnet, kann er das natürlich im Medikationsplan gar nicht vermerken“, so Dunja Kleis. TOP gebe nun die Sicherheit, dass wirklich alle Arzneimittel aufgeführt seien.
TOP läuft seit rund zwei Jahren

Eine Barmer-Umfrage im Vorfeld brachte die Erkenntnis, dass neun von zehn Krankenhauspatienten es begrüßen würden, wenn sie sich nicht selbst um das Bereitstellen des bundeseinheitlichen Medikationsplans kümmern müssten, sondern die Daten von der Krankenkasse geliefert würden. Bei Krankenhäusern waren es sogar 100 Prozent, die gern auf Behandlungsdaten beziehungsweise Arzneimitteldaten über die Krankenkassen zugreifen würden. Und dass keine Daten in falsche Hände geraten, dafür sorgt die Software mit sicherem verschlüsseltem Zugang, in der entsprechend hinterlegt ist, dass die Berechtigungen im Krankenhaus so organisiert sind, dass nur Patienten sowie Ärzte und Mitarbeiter darauf zugreifen können, die an der Behandlung beteiligt sind. „Genau wie bei allen anderen Daten auch“, erklärt sie.
TOP läuft seit rund zwei Jahren und wird durch den Innovationsfonds des Bundes mit rund 9,3 Millionen Euro gefördert, wobei das Projekt Ende 2024 abgeschlossen sein soll. „Damit werden die Software, die zusätzlichen Aufwände, die die Kliniken haben, das ganze Projektsetting sowie die Evaluation vergütet. Das Projekt wird auch wissenschaftlich intensiv begleitet“, erklärt Dunja Kleis. Die Berichte und Ergebnisse gehen an den Innovationsfonds-Ausschuss des Bundes, der dann bewertet, ob das Projekt gezeigt hat, dass es wirklich die Arzneimitteltherapie verbessert. Ob es also tatsächlich zu weniger Komplikationen aufgrund von Arzneimittelwechselwirkungen kommt. „Und dann wird auf Bundesebene beraten, ob das als Standardbehandlung auch für alle anderen Krankenhäuser umgesetzt werden soll“, so Dunja Kleis.