Einst war die SPD eine starke Berlin-Partei. Bei der Bundestagswahl im Februar landete sie in der Stadt nur noch auf Platz fünf. „Dieses Wahlergebnis ist ein tiefer Einschnitt”, sagt der ehemalige Regierende Bürgermeister Michael Müller.
Manchmal, sagt Michael Müller, kamen Menschen in sein Wahlkreisbüro, die nie SPD wählen würden, nur um sich die alte Druckmaschine anzuschauen, die man durchs Schaufenster sieht. Die Maschine stammt aus der Druckerei, die sein Vater Jürgen Müller in Neu-Tempelhof betrieben hat und in der auch der Sohn nach seiner Ausbildung zum Bürokaufmann ab 1986 gearbeitet hat. So lange, bis es seine Karriere in der SPD zeitlich nicht mehr erlaubte. Michael Müller zeigt auf die alte Druckmaschine und die Kästen mit den Buchstaben für den Bleisatz. Etwa ein Drittel der Dinge aus der inzwischen geschlossenen Druckerei sei das – „ein Stück Erinnerung, von dem ich mich nicht trennen konnte“, sagt er. Dass Menschen sich das anschauen wollen, wird in Zukunft seltener vorkommen. Das Wahlkreisbüro in der Bleibtreustraße, einer Seitenstraße des Kurfürstendamms, ist kein Wahlkreisbüro mehr. Als sich der neue Bundestag am 25. März konstituiert hat, war Michael Müller nicht mehr dabei.
Die Zahl der Menschen, die die SPD nicht wählen, ist größer geworden im Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf. 2021 hatte Müller den Wahlkreis noch gewonnen. Nun musste er ihn an Lukas Krieger, einen Newcomer von der CDU abgeben. Auf der Landesliste seiner Partei, die er 2021 noch als Spitzenkandidat anführte, hatte er keinen Platz mehr bekommen. Seine Partei hat es bei der Wahl am 23. Februar noch schlimmer erwischt: Sie landete hinter den Linken (19,9 Prozent), der CDU (18,3 Prozent) den Grünen (16,8 Prozent) und der AfD (15,2 Prozent) mit 15,1 Prozent nur noch auf Platz fünf.
Immer weniger Wähler für die SPD
„Dieses Wahlergebnis ist ein tiefer Einschnitt“, sagt er. Denn die SPD war einmal so etwas wie die Berlin-Partei überhaupt. Und der Drucker Michael Müller war ein Teil ihrer Erfolgsgeschichte. Seit 1981 Mitglied zog er 1996– nach sieben Jahren in der Tempelhofer Bezirksverordnetenversammlung – ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Zehn Jahre lang war er dort Vorsitzender der SPD-Fraktion, bevor er 2011 zunächst Senator für Stadtentwicklung und Umwelt und dann Ende 2014 zum Regierenden Bürgermeister gewählt wurde.
„Ernst Reuter, Richard von Weizsäcker, Willy Brandt – nur drei Gründe, warum ich bis heute größten Respekt vor diesem Amt habe“, sagt er. Richard von Weizsäcker war Christdemokrat, aber „die Geschichte der Berliner SPD ist auch eine Geschichte bedeutender Persönlichkeiten, die den gemeinsamen politischen Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verkörpern“ – so formulieren es Partei-Historiker auf der Internetseite der Berliner Sozialdemokraten. „Wie keine andere Partei spiegelte sie – besonders im 20. Jahrhundert – die Entwicklung der Stadt und wirkte im Mittelpunkt, wenn Berlin an einem Scheideweg stand“, beschreibt sich die Partei selbst.
Der Berliner Sozialdemokrat Otto Wels hielt am 23. März 1933 eine als historisch eingestufte Reichstagsrede gegen das „Ermächtigungsgesetz“ der Nazis. „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht!“, schleuderte Wels denen entgegen, die die deutsche Demokratie kurz darauf beerdigten. Nach dem Krieg war es der Sozialdemokrat Ernst Reuter, der als erster wieder frei gewählter Bürgermeister von Berlin vor der Reichstagsruine am 9. September 1948 vor rund 300.000 Menschen abermals ein Ausrufezeichen setzte: „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“
Von 1957 bis 1966 regierte Willy Brandt West-Berlin und machte sich bereits als Bürgermeister weltweit einen Namen. Walter Momper, Regierender Bürgermeister zur Zeit des Mauerfalls, fiel immerhin durch seinen roten Schal auf. Und auch wenn Klaus Wowereit als „Regierender Partymeister“ verspottet wurde, schaffte er es doch, mit seinem „Ich bin schwul – und das ist auch gut so!“ und seiner Analyse, Berlin sei „arm, aber sexy“ in Erinnerung zu bleiben – und auf dem Cover des amerikanischen „Time Magazine“ zu landen.
Michael Müller kommt in der Internet-Chronik bedeutender Persönlichkeiten der Berliner SPD nicht vor. Sie endet 2020. Da war Müller bereits sechs Jahre im Amt. Seinen Namen findet man wie den der kurzzeitig amtierenden Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey nur in der Liste der Berliner SPD-Parteivorsitze. Dass ihn seine Partei bei der Aufstellung der Bundestags-Landesliste abserviert hat, erklärte Müller damals damit, dass ihn die Mehrheit in seiner SPD für „zu alt, zu weiß und zu rechts“ halte.
Aus seiner Sicht hat die Partei damit einen Fehler gemacht. Ihr Angebot an die Wählerinnen und Wähler sei nicht so vielseitig gewesen, wie es für eine Volkspartei notwendig gewesen wäre. „Wir hatten in Berlin kein ausgewogenes inhaltliches und personelles Angebot“, sagt Müller. Ob seine Partei das durch die heftige Niederlage verstanden hat, will er nicht beurteilen. Für ihn ist aber klar: „Mehr linke Politik machen, dann wird es besser – das greift zu kurz.“
Wobei es nicht nur die Fehler der Berliner Genossinnen und Genossen gewesen seien, die zum Absturz der Partei geführt haben. „Wir hatten aber auch harten Gegenwind von der Bundesebene“, sagt Müller. Und dass die Linken so erfolgreich waren und stärkste Kraft in Berlin wurden, sei einer Mischung aus einigen Dingen geschuldet. Müller erklärt das so: „Da kam einiges zusammen: die Befreiung von Sarah Wagenknecht, ein tolles Führungs-Duo, Gysi, Bartsch, Ramelow – das muss man professionell anerkennen. Die Linken haben zwei, drei Themen in den Vordergrund gestellt. Wir nicht. Wir kamen mit unseren Themen nicht durch. Das ist etwas, was man von den Linken lernen kann.“
„Solche Leute kann man sich nicht backen“
Und vielleicht auch das: Berlin als Ganzes zu sehen und provinziell anmutendes Klein-Klein zu vermeiden. Damit eine überzeugende Politik für die ganze Stadt zu formulieren und dann auch umzusetzen, tue sich allerdings nicht nur die Sozialdemokratie schwer. „Die Kraft liegt in den Bezirken – darunter leiden CDU und SPD“, weiß Michael Müller aus seiner Zeit als Senator und Regierender Bürgermeister. Im Aushandeln der Interessen zwischen den Bezirks-Fürsten der Partei bleibe manches auf der Strecke – eine Erfahrung, die auch der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) gerade bei der Umsetzung seiner Verwaltungsreform macht.
Im ehemaligen Wahlkreisbüro von Michael Müller hängen Bilder von Helmut Schmidt und Willy Brandt an den Wänden. Ist es vielleicht ein Teil des Problems, dass es solche Politiker heute nicht mehr gibt? „Solche Leute kann man sich nicht backen. Die CDU hat auch keinen Kohl und keinen Adenauer“, antwortet Müller. Dennoch: Otto Wels, Ernst Reuter, Willy Brandt und auch Klaus Wowereit – es fällt schwer, in dieser Reihe die Namen Martin Hikel und Nicola Böcker-Giannini zu nennen.
Die beiden führen zurzeit die Berliner SPD. „Wir können das Ergebnis der Bundestagswahl nicht eins zu eins auf Berlin übertragen“, wehren die Landesvorsitzenden Kritik am Kurs der Partei ab. „Mehr Glaubwürdigkeit, mehr konkrete Lösungsansätze und Personen, die soziale Politik authentisch verkörpern“, fordert die stellvertretende SPD-Landesvorsitzende Sinem Taşan-Funke von ihrer Partei in einem Instagram-Beitrag. Anderen Parteien gelinge es, die Themen soziale Gerechtigkeit, Mietenexplosion „glaubwürdig zu adressieren“, schloss sie aus dem Wahlausgang. Nur eben nicht den Sozialdemokraten.
Das geht in die „Mehr linke Politik machen, dann wird es besser“-Richtung, die Müller für falsch hält. Wie Müller finden auch andere Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten den Ansatz, linker sein zu wollen als die Linken und grüner als die Grünen, wenig erfolgversprechend. Öffentlich darüber reden wollen sie lieber nicht – das könne der Karriere in einer Partei, deren Führung überwiegend cool und alternativ sein will, schaden. Der Kampf um die Stimmen in den Szenekiezen dürfe dennoch nicht der für die SPD wichtigste sein. Man müsse sich wieder hauptsächlich auf die Stadtviertel konzentrieren, in denen es den Menschen nicht so gut geht – die Viertel also, in denen die Linken und immer mehr die AfD Erfolge feiern.
Ob es der Berliner SPD gelingt, das hinzukriegen oder überhaupt erst mal zu wollen, was Müller unter einem „ausgewogenen inhaltlichen und personellen Angebot” versteht, ist unklar. Klar ist: Fällt das Ergebnis bei der Abgeordnetenhauswahl im kommenden Jahr ähnlich aus wie das der Bundestagswahl, wird es in Berlin für kein Zweierbündnis mehr reichen. Weder eine CDU/SPD-Koalition wie aktuell, noch ein schwarz-grünes Bündnis wären möglich. Wird Berlin also ab Ende 2026 von einer schwarz-rot-grünen Kenia-Koalition, die im Bund wegen des Scheiterns des „Bündnisses Sarah Wagenknecht“ und der damit verbundenen Sitzverteilung noch vermieden werden konnte, regiert? Oder raufen sich Linke, Grüne und SPD zusammen?
In beiden Konstellationen wären die Sozialdemokraten der schwächste Partner. Diese Vorstellung schmerzt jemanden wie Michael Müller. Im Dezember ist er 60 Jahre alt geworden. Nun hat er kein politisches Amt mehr – kein Mandat und auch keine Funktion in der Partei. Dennoch sagt er: „Ich werde mich nicht aufdrängen.“ Schiebt aber nach: „Ich bin aber bereit zu helfen, wenn es passt und gewünscht ist.“
Sein Büro in Charlottenburg wird er jedenfalls erst mal nicht aufgeben. Aus dem Wahlkreisbüro soll ein Ort der Begegnung werden. Er will dort weiter Ansprechpartner für Berlinerinnen und Berliner sein und ab und zu interessante Persönlichkeiten zu öffentlichen Gesprächsrunden einladen. Etwa 80 Personen finden Platz im Büro, wenn man die Erinnerungsstücke aus der Druckerei etwas zur Seite schiebt. Und vielleicht, sagt Michael Müller, kommt ja der eine oder die andere auch einfach mal vorbei, um sich die alte Druckmaschine anzuschauen, die man durchs Schaufenster sieht.