Mehr Radverkehr tut nicht nur dem Stadtklima gut. Insbesondere die Menschen profitieren davon. Frankreich und die Niederlande gehen mit Vorreiter-Beispielen voran. In Deutschland hat Autoverkehr weiter Vorrang.
Deutschland und die Autos. Von sechs Milliarden Euro Investitionen in den Straßenbau kommen nur 100 Millionen im Radverkehr an. Dabei gibt es bei den Nachbarn Beispiele, wie es aussehen könnte.
Frankreich: Paris gibt die Stadt den Menschen zurück
Die 2016 ins Amt gewählte Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo setzt aufs Fahrrad. Insgesamt hat Frankreichs Hauptstadt in den vergangenen zehn Jahren 550 Kilometer neue Radwege gebaut. Weitere folgen. Während Berlin seine in der Corona-Zeit gebauten Pop-up-Radwege wieder abbaut, erweitert Paris das Netz.
Die Verkehrswende hat in Paris vor rund 15 Jahren unter Hidalgos Vorgänger begonnen. Er ließ überall in der Stadt die Leihräder aufstellen, die immer mehr genutzt werden. Seitdem ist die Hauptstadt grüner und klimafreundlicher geworden.
Jetzt soll die 35 Kilometer lange Ringautobahn „Périph“ von drei auf eine Spur je Richtung zurückgebaut werden. Die frei werdende Fläche will die Stadt begrünen und für neue Fahrradwege und Busspuren nutzen. Bisher fahren jeden Tag eine Million Autos über den chronisch verstopften Ring. Zusammen mit den Pkw in der Stadt verursachen sie mehr als ein Drittel der Luftverschmutzung. Die liegt in Paris und vor allem in der Nähe der „Périph“ nach Angaben der Stadt sechsmal höher als es die Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation WHO erlauben.
Paris will zur 15-Minuten-Stadt werden. Alle Bewohner und Bewohnerinnen sollen sämtliche für sie wichtigen Einrichtungen von der Schule über die Arztpraxis bis zum Supermarkt in maximal 15 Minuten ohne Auto erreichen können.
Niederlande: auch andere Städte bauen um
Utrecht hat 245 Kilometer neue Radwege und am Bahnhof Europas größtes Fahrradparkhaus eröffnet. Mit dem Auto fährt hier nur noch, wer keine andere Möglichkeit hat.
Auch das niederländische 50.000-Einwohner-Städtchen Houten hat seine Wohngebiete für den Durchgangsverkehr gesperrt. Wer mit dem Auto unterwegs ist, muss das Wohngebiet verlassen und die Stadt auf einer Ringstraße umfahren. Einwohner berichten, dass sie dadurch im gesamten Stadtgebiet mit dem Fahrrad deutlich schneller ans Ziel kommen als mit dem Pkw. Das Auto nimmt nur noch, wer zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen darauf angewiesen ist. Der- oder diejenige steht dann kaum noch im Stau. Es sind deutlich weniger Autos unterwegs als früher. Seit dem Umbau gab es in Houten keinen Verkehrsunfall mehr.
Die Niederlande haben ein dichtes, vom Autoverkehr getrenntes Radwegenetz. Gefährlich wird es für Radler an Kreuzungen. Hier hilft es, Fahrradampeln vor denen für die Autos auf Grün zu schalten. Aufstellflächen für Radfahrende sorgen dafür, dass Rechtsabbieger sie nicht übersehen. Die Fahrradfahrenden warten bei Rot vor den Autos. Bewährt hat sich auch das Rundum-Rot an niederländischen Kreuzungen. Hier bleiben alle Autos stehen, damit zu Fuß Gehende und Radfahrende sicher über die Straße kommen. Dann folgen die jeweiligen Grünphasen für den Pkw.
Deutschland: veraltete Gesetze behindern die Verkehrswende
In Deutschland kommt die Verkehrswende – abgesehen von Einzelprojekten – kaum voran. So scheiterte die von der Ampel-Koalition vereinbarte Reform des Straßenverkehrsgesetzes StVG und der Straßenverkehrsordnung StVO am Widerstand von CDU und CSU im Bundesrat. Rational sei dies nicht begründbar, sagt Christian Hupfer, Verkehrsforscher am Baden-Württemberg-Institut für nachhaltige Mobilität.
Die Folge: Nach beiden Gesetzen und der Rechtsprechung dazu hat „die Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs“ weiterhin Vorrang. Gemeint ist der motorisierte Individualverkehr mit Autos, Motorrädern und Lastwagen. 2020 hat der Gesetzgeber eine Experimentierklausel eingeführt, die nur einzelne, zeitlich begrenzte Verkehrsversuche zulässt.
Weitere Einschränkungen lassen Gerichte nur zu, wenn sie nachweislich der Verkehrssicherheit dienen oder die Luft im betreffenden Gebiet dauerhaft schlechter ist als erlaubt. So verklagt die Deutsche Umwelthilfe (DUH) immer wieder Städte, weil sie die Schadstoff-Grenzwerte nicht durchsetzen.
Vorrang des „fließenden (Auto-) Verkehrs“
Auch Verkehrsbeschränkungen und Tempo-30-Zonen zur Verhinderung von Unfällen erlaubt die StVO nur, wenn die jeweilige Stadt oder Gemeinde an der betreffenden Stelle ungewöhnlich hohe Unfallzahlen nachweist. Sinken die Zahlen wieder, muss sie die Beschränkung abbauen. Ausnahmen gelten nur in reinen Wohngebieten sowie vor Schulen und Kindergärten.
Bei Neu- und Umbauten bremsen die Landesbauordnungen die Ideen der Planer. Je nach Bundesland müssen die Eigentümer für Wohnungen und Büros jeweils eine Mindestzahl von Stellplätzen nachweisen. So sorgt der Gesetzgeber dafür, dass noch mehr öffentlicher Raum versiegelt und für Autos vorgehalten wird. Die vielen Stellplätze brauchen Platz, der dann für Radwege fehlt.
Bullerbü in Berlin
Den Kottbusser Damm in Berlin-Kreuzberg, einst eine dicht befahrene vierspurige Hauptstraße, hat der Bezirk zurückgebaut. Für den Autoverkehr gibt es nur noch eine Spur in jede Richtung. Die zweite Trasse wurde zum geschützten Radweg hinter den parkenden Pkw. Dirk von Schneidemesser hat die Auswirkungen nachgemessen: Die Autofahrer benötigten für den Streckenabschnitt jetzt durchschnittlich zwei bis sechs Sekunden länger als früher. Staus gibt es weniger als vor dem Umbau.
Fazit: Wo es sichere Radwege gibt, steigen die Menschen aufs Fahrrad um. Entscheidend ist für Stephanie Krone, Sprecherin des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs ADFC, die „Eindeutigkeit“. Man müsse sofort erkennen können, wo die Autos fahren dürfen und wo der geschützte Platz für Fahrradfahrer und Fußgänger ist. Wo der Raum für die Trennung der Wege für Pkw, Radfahrende sowie Fußgängerinnen und Fußgänger nicht reicht, empfiehlt der ADFC Fahrradstraßen nach niederländischem Vorbild. Diese Straßen sind offen für alle, Vorrang haben jedoch zu Fuß Gehende und Radfahrende. Autos dürfen nicht schneller als 20 km/h fahren. Das Modell entspricht etwa den Spielstraßen, die es inzwischen in vielen deutschen Städten gibt.