Drachenblutbäume auf schroffen Hochplateaus, blühende Flaschenbäume in brütend heißen Canyons, riesige Sanddünen: Die Natur des entlegenen Sokotra-Archipels im Indischen Ozean ist einzigartig.
Der erste Eindruck ist ernüchternd. Das soll also die „Insel der Glückseligkeit“ sein? So die Übersetzung des Inselnamens Sokotra, dessen Ursprung im Sanskrit vermutet wird. Die Inselhauptstadt Hadibu, knapp 10.000 Einwohner, empfängt den Besucher mit einer schier unvorstellbaren Menge an Plastikmüll. Es gibt kaum ein Fleckchen Erde, wo keine Tüten oder plattgetretenen Flaschen herumliegen.
Nach Erledigung der obligatorischen Permits geht es endlich mit geländegängigen Jeeps auf die Küstenstraße Richtung Camp. Aus den Lautsprechern tönt fremdartige Musik. Gesungen wird auf Soqotri, der alten Inselsprache ohne Schrift, die langsam der arabischen Sprache weicht. Die Lieder klingen nach Sehnsucht und Exotik und machen neugierig. Als die Hauptstadt Hadibu auf Miniaturgröße geschrumpft ist, zeigt sich die Natur von ihrer grandiosen Seite. Linker Hand der Indische Ozean in betörendem Türkisblau, rechter Hand steil aufragende Felswände, an deren Ocker sich bis zu 200 Meter hohe feinsandige Dünen türmen, in denen so mancher deutsche Fernsehturm komplett verschwinden würde. Was für ein gewaltiger Anblick!
Vor dem kleinen Zeltlager am Strand patrouilliert eine Schule Großer Tümmler in Ufernähe, fast als ob die Delfine die Neuankömmlinge begrüßen wollten. Darf es noch ein bisschen mehr sein? Ja, vielleicht Schnorcheln in der geschützten Bucht. Blutrote Federsterne auf orangefarbenen Gorgonien, die im glasklaren Wasser zu tanzen scheinen, ein großer Schwarm silbrig glänzender Stachelmakrelen, der keinerlei Angst vor diesen ungelenken Gestalten mit Schnorcheln zeigt, ein recht geschäftig wirkender kleiner Rotmaul-Zackenbarsch über Hartkorallen.
Über 1.000 endemische Arten
Sie alle geben einen winzig kleinen Einblick in das überbordende maritime Leben des Sokotra-Archipels, bestehend aus der Hauptinsel Sokotra und drei kleinen Nebeninseln, der fast allen Menschen verborgen bleibt. Eine Tauchbasis gibt es nicht, wie auch sonst keinerlei touristische Infrastruktur außerhalb von Hadibu. „Vor Sokotra treffen wechselnde Meeresströmungen der ostafrikanischen Küste, der Arabischen See und des offenen Indischen Ozeans aufeinander, die eine einzigartige biologische Vielfalt hervorbrachten, die noch am Anfang ihrer Erforschung steht“, erklärt Dr. Uwe Zajonz, Meeresbiologe am Frankfurter Senckenberg-Forschungsinstitut.
Doch es war der österreichische Tauchpionier, Zoologe und Dokumentarfilmer Hans Hass, der erstmals 1957 die nahezu unbekannte Unterwasserwelt erkundete und die Inselgruppe ins Schaufenster der Weltöffentlichkeit hievte. Durch Zufall. Denn auf dem Weg vom französischen Cannes zu den Malediven havarierte sein elegantes Forschungsschiff, der Dreimastschoner „Xarifa“, in den schwierigen Gewässern vor Sokotra.
Als einzigartig und faszinierend präsentiert sich das Unesco-Biosphärenreservat und Weltnaturerbe auch an Land, das sich am besten auf einer Trekkingtour erkunden lässt. Im Gegensatz zur Unterwasserwelt waren die vier Inseln 20 Millionen Jahre weitestgehend isoliert – bis vor wenigen Jahren ein See- und ein Flughafen gebaut wurden. Wind und Wetter formten eine bizarr anmutende Landschaft, die Evolution erschuf über 1.000 endemische Tier- und Pflanzenarten. 37 Prozent der Pflanzen- und 90 Prozent der Reptilienarten sowie sämtliche Süßwasserfische leben beispielsweise nur dort. Der Slogan „Galapagos des Indischen Ozeans“ kommt nicht von ungefähr. „Aus evolutionsbiologischer Sicht ist der entlegene Archipel im Indischen Ozean durchaus vergleichbar mit dem des Pazifiks“, sagt Zajonz.
Wer auch nur einen Bruchteil dieser Vielfalt zu Gesicht bekommen möchte, erhält nichts geschenkt. Per aspera ad astra. Ein rauer Weg führt zu den Sternen – und zu den urzeitlichen Sokotra-Drachenblutbäumen, unter denen Ziegenhirten mit ihren Herden Schatten finden. Diese merkwürdig anmutenden, pilzförmigen Gewächse sind – natürlich – ebenfalls endemisch. „Aus ihrem tiefroten Harz stellen wir seit Menschengedenken blutstillende Medizin, Färbemittel und kostbaren Weihrauch her“, verrät Naturführer Nasim. „Viele Sokotri sagen dem Harz gar magische Kräfte nach.“
Im Hier und Jetzt sind sie stolze Botschafter einer Urzeit, als an den Menschen noch ewig nicht zu denken war. Symbol und Sinnbild einer aus der Zeit gefallenen Insel. Der einzige Drachenblutbaumwald der Welt wächst auf dem entlegenen Firmhin Plateau 600 Meter über dem Meer. Er ist das wohl beliebteste Fotomotiv der wenigen Ökotouristen aus Europa und Amerika.
Zwischen dem Strand und dem Fermhin Plateau liegt eine Ausnahmelandschaft mit zerklüfteten Karst- und Tafelbergen und atemberaubend tiefen Canyons. Der Abstieg in die brütend heißen Wadis ist steil und selbst mit leichtem Tagesrucksack ziemlich schweißtreibend. Ohne die Kamele, die das große Gepäck, die Zelte und Küchenausrüstung auf weiten Umwegen zum nächsten Nachtlager tragen, würde es nicht gehen. Die Anstrengung lohnt. Links und rechts der halsbrecherischen Pfade blühen endemische Flaschenbäume, die an mannshohe afrikanische Affenbrotbäume mit aufgeblähtem Stamm und langen Wurzeln auf kahlem Felsen erinnern. Wüstenrosen nennt sie der Volksmund hier wegen ihrer betörend schönen, roten Blüten.
Ein Highlight sind die Zahek-Dünen
Der Naturpool im Homhil-Schutzgebiet mit seinem phänomenalen Panoramablick auf den Indischen Ozean ist so etwas wie das Epizentrum des Inseltourismus. Hier trifft man sich, tauscht sich aus, nimmt ein kühlendes Bad. Zu Stoßzeiten können schon mal 15 oder gar 20 Wanderer zusammenkommen. Ansonsten sieht man unterwegs höchstens mal einen Hirten oder neugierige Kinder mit feingeschnittenen Gesichtern. Woher sie kommen, wohin sie gehen und wo sie wohnen, wird ihr Geheimnis bleiben.
Ein Highlight der Trekkingtour sind die wüstenähnlichen weißlich-gelben Zahek-Dünen im Süden der Insel, die sich weit landeinwärts erstrecken und einen beeindruckenden Kontrast zur ansonsten felsigen Topografie bilden. Es scheint unsichtbare Wege zu geben. Ein Junge in rotem T-Shirt und hellem Tuch läuft in der Ferne barfuß durch dieses Meer aus heißem Sand. Sehr gradlinig. Zielstrebig. Nichts scheint ihn ablenken zu können. Die Szenerie wirkt surreal. Wohin der Junge gehen mag? Wo doch nur Sand vor ihm liegt.
Und wie es wohl mit Sokotra weitergehen wird? Mit diesem einzigartigen Naturjuwel, dass sich nach paradiesischen 20 Millionen Jahren nicht mehr hinter Unzugänglichkeit verstecken kann.