Europa hat die Wahl von Friedrich Merz mit Spannung verfolgt. Der Christdemokrat trägt nun Hoffnungen und Ängste eines Kontinents auf seinen Schultern. Von Portugal bis Polen, von Kopenhagen bis Kyjiw – die Erwartungen an den neuen Taktgeber in Berlin könnten kaum höher sein. Eine Analyse.
Deutschland steht am Scheideweg“, analysiert Daniela Schwarzer, die Politologin mit Insiderblick auf Europas Machtgefüge. Als Vorständin der Bertelsmann Stiftung weiß sie: Merz’ Erfolg hängt davon ab, ob er seine Reformversprechen mit Tatkraft umsetzt. Nur so kann Deutschland die Führungsrolle in Europa zurückerobern – und dem Schatten populistischer Kräfte entkommen, die überall lauern.
Nach den als träge empfundenen Jahren unter Olaf Scholz sehnt sich Europa nach einem Deutschland, das nicht nur zahlt, sondern auch denkt und lenkt. Frankreichs Emmanuel Macron spricht vom „deutsch-französischen Motor“, der die EU auch gegenüber den USA wieder auf Touren bringen müsse. „Wir brauchen europäische Souveränität, und Deutschland ist der Schlüssel“, sagt Macron mit Nachdruck.
Besonders kleinere EU-Staaten wie Dänemark warten auf die Wende. „Deutschlands Stärke sichert unsere Werte“, betont Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Lettlands Ex-Außenminister Krišjānis Kariņš glaubt: „Ein starkes Deutschland heißt ein sicheres Baltikum.“
Vergessen sind die Zeiten, als ein starkes Deutschland Ängste weckte. François Mitterrands ironisches „Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich froh bin, dass es zwei davon gibt“ klingt wie ein Relikt aus einer anderen Ära. Heute fleht Europa: „Deutschland, steig in den Pilotensitz!“ Ist Merz, der Hobbyflieger, genau der Mann, den Europa sich am Steuerknüppel der größten EU-Nation erhofft?
Warten auf die Wende
Merz spürt den Druck – und reagierte bereits vor Regierungsübernahme. Außenpolitik sei Chefsache, kündigte der 69-Jährige an. Sein Außenminister und Parteifreund Johann Wadephul wird seine Diplomatie eng mit dem Kanzleramt aus einem Guss formen.
Die neue geopolitische Ausrichtung der Bundesrepublik lässt sich an den Merz’schen Auftaktreisen ablesen. Kaum im Amt, jettet er nach Paris zu Macron. Am selben Tag noch fliegt Merz wieder über Berlin hinweg nach Warschau zu Donald Tusk.
Dann folgt ein symbolträchtiger Trip nach Kyjiw, gemeinsam mit Macron, Tusk und dem britischen Premier Keir Starmer. Vielleicht ein Thema: Taurus-Lieferungen für die Ukraine? Anders als sein zögernder Vorgänger ist Merz dazu bereit – „in Abstimmung mit den Partnern“. Dass er die Zerstörung der Krim-Brücke von Kertsch als ein Ziel nannte, trug ihm aus Moskau die rüde Bezeichnung „Nazi“ ein.
Merz’ weitere Auslandsziele sind Prioritäten geschuldet. Dicht getaktet folgen der Nato- und EU-Sitz Brüssel, Europas neues Kraftzentrum London, das derzeitige Problempflaster Washington, der weltpolitische G7-Gipfel in Kananaskis (Kanada) und das Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Tirana (Albanien). Bis Mitte Mai will Merz so die Weltbühne erobert haben – ein Mann, ein Plan, ein Regierungsflieger.

Doch Europa will mehr als Show. Es brennt auf ein Deutschland, das nicht nur wirtschaftlich wieder glänzen, sondern auch militärisch Muskeln zeigen soll. So drängen besonders die europäischen Christdemokraten unter Manfred Weber (EVP/CSU) auf eine europäische Verteidigungsunion – notfalls mit EU-Schulden finanziert.
Dabei ist Merz dem CDU-Wahlprogramm verpflichtet, das verlangt: „Unser Europa muss eine Verteidigungsunion werden!“ In diesem Punkt steht Merz unter internem Zugzwang, obwohl andere EU-Regierungen vorsichtiger sind. Aber für die Willigen ist klar: Ohne Deutschland bleibt gemeinsame Sicherheitspolitik bis jetzt nur ein Luftschloss.
Deutschland ist heute in Europa auch ein Mitgestalter europäischer Autonomie– gegenüber den abtrünnig gewordenen USA wie gegenüber dem Systemrivalen China. Mit Merz’ wirtschaftsliberaler und sicherheitspolitischer Haltung verbinden viele Hauptstädte die Hoffnung auf engeren Schulterschluss.
Die angekündigte Aufstockung des deutschen Verteidigungshaushalts durch Schwarz-Rot wird vor allem in den meisten östlichen EU-Ländern mit Wohlwollen registriert. Je weiter man sich von der russischen Grenze entfernt, desto mehr ändern sich allerdings die Erwartungen an die Bundesrepublik.
So hoffen Spanien, Italien und Portugal besonders auf frische wirtschaftliche Dynamik. Pedro Sánchez, Spaniens Premierminister, sieht in einem ökonomisch fitten „Alemania“ einen „Motor für Europas sozialen Zusammenhalt.“ Das Aufweichen der Schuldenbremse empfindet der Sozialdemokrat als Schaffung neuer Investitionsspielräume, die dem gesamten Binnenmarkt zugutekämen.
Weimarer Dreieck als Kraftzentrum
In die erwartungsfrohe Sympathie mischt sich Sorge. So wird der Aufstieg der AfD in ganz Europa genau beobachtet. Die Frage, ob die CDU/CSU/SPD-Koalition dem Populismus mit einem größeren finanziellen Spielraum etwas entgegensetzen kann, gilt als Lackmustest für die gesamte EU. In fast allen 27 EU-Ländern sind radikale Kräfte auf dem Vormarsch. Sie bedrohen, wie jüngst im EU- und Nato-Land Rumänien, die Bündnisse und die westliche Wertegemeinschaft. Nun erwarten viele in Brüssel und Berlin einen moralischen Kompass, der auch ihnen ihre Richtung vorgibt.
Nirgends brennt die Erwartung an Deutschland heißer als in der Ukraine. „Wir verteidigen, dass Berlin nachts ruhig schläft“, sagt Botschafter Oleksij Makejew mit bitterem Unterton. Kyjiw hofft auf Merz’ klare Kante: mehr Waffen, mehr Geld, mehr Rückhalt. Anders als der zögerliche Scholz zeigt Merz Mut. In der Sendung „Caren Miosga“ sprach er offen über Taurus-Marschflugkörper für die Ukraine. Trotz der danach giftigen Beleidigung aus Moskau: Merz gibt sich unbeeindruckt. Viele – wenn auch nicht alle – Teile Europas applaudieren.
In Frankreich, dem Partnerland der legendären deutsch-französischen Freundschaft, herrscht frühlingshafte Aufbruchsstimmung. Die Frostzeiten zwischen Scholz und Macron sind passé; Merz soll die Liebe neu entfachen. Paris träumt von einem politisch, wirtschaftlich und militärisch unabhängigen Europa. Es wünscht sich EU-„Champions“, die bei Produktion und Handel mit China und den USA konkurrieren. Und es will ein Deutschland, das die Atomkraft nicht länger verteufelt. Das „Weimarer Dreieck“ – Deutschland, Frankreich, Polen – soll wieder pulsieren. Auch deshalb müssen alle drei eng zusammenarbeiten, weil Frankreich als zweitgrößte Volkswirtschaft der EU innenpolitisch durch den Aufstieg des rechtsextremen Rassemblement National schwer angeschlagen ist und daher auch international an Gewicht verloren hat.
Doch es gibt Klippen in Seine und Spree: Frankreichs Push für Eurobonds und Verteidigungsanleihen stößt in Berlin auf Skepsis. Die H2Med-Wasserstoffpipeline, ein Prestigeprojekt für grüne Energie, sorgt in Paris für Stirnrunzeln wegen Kosten und Umweltfragen. Und während Merz Israels Schutz zur Staatsräson erklärt und Wege finden will, den vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag per Haftbefehl gesuchten israelischen Premier Netanjahu zu empfangen, plant Macron die Anerkennung des inexistenten Staates Palästina – ein Tanz auf Messers Schneide, der die deutsche Diplomatie fordern wird.
Vielen im Ausland ist Merz allerdings auch ein Rätsel. Sein Bekanntheitsgrad ist nicht überall hoch, da er noch nie ein Regierungsamt innehatte. Dennoch erwartet man von Merz und seinem Kabinett viel. Europäer, die Merz kennen, sehen den „Neuen“ als klaren Redner und wirtschaftsliberalen Hardliner mit sicherheitspolitischem Biss. Seine Herkulesaufgabe lautet: die Bundesrepublik als Ankerstaat der EU neu zu erfinden. Und das inmitten von Kriegen, Wirtschaftskrisen und populistischen Winden.
Der Blick aus dem europäischen Ausland ist daher nicht nur gespannt – auch fordernd. Von Italien bis Irland, aber auch von Peking bis Washington – die Welt schaut auf Berlin, will Stärke ohne Dominanz von einem deutschen Staat sehen. Und erst recht ohne deutsche Belehrungen. „Vorangehen, ja – bevormunden, nein“, lautet die Botschaft.