Mehr als viereinhalbtausend Kilometer ist die Eisenbahnstrecke von einem Ende Kanadas zum anderen lang. Der Schnellzug „Canadian“ quert den Kontinent zwischen Vancouver und Toronto in fünf Tagen und vier Nächten und durchfährt fünf Zeitzonen.

Sie ist die weltweit längste reguläre Zugverbindung nach der transsibirischen Eisenbahn. Einst wurde die Bahnstrecke als Klammer für den neu entstehenden Staat Kanada geschaffen. Heute dient sie in erster Linie dem Güterverkehr. Touristen, aber auch Einheimische nutzen den legendären „Canadian“, der sich alle zwei Tage auf die Reise von Ost nach West und von West nach Ost macht, um auf entspannte Weise das Land an sich vorbeigleiten zu lassen.
Die Pacific Central Station ist der wuchtige Hauptbahnhof von Vancouver. „Pacific Central“ ruft es in riesigen Buchstaben, die abends hellrot leuchten, vom Dach. Vor dem Schalter von Viarail, der staatlichen Personenverkehrsgesellschaft, hat sich eine lange Schlange zum Einchecken gebildet. Ein wenig erinnert die Atmosphäre an einen Flughafen: Aufgabe des Großgepäcks, denn in den schmalen Abteilen ist dafür kein Platz. Eine halbe Stunde vor Abfahrt wird der Bahnsteig geöffnet. An jedem Einstieg der 20 silbergrauen Waggons wartet ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin in blau-gelber Uniform und dirigiert die Passagiere zu ihren Abteilen. Pünktlich um 15 Uhr setzt sich der lange stählerne Wurm in Bewegung, vorne zwei, hinten eine schwere Diesellok. Er zieht durch die Vororte von Vancouver, an einem weitläufigen Güterbahnhof vorbei. Viel Zeit bleibt nicht zum Eingewöhnen im Abteil, denn es wird bald zum ersten Durchgang des Abendessens gerufen, wie immer zweisprachig, auf Englisch und Französisch.
Die Nacht verbringen einige Passagiere im Sitzwagen, in anderen Waggons werden die Sitze zu Betten umgeklappt. Am komfortabelsten reist es sich in einem Abteil. „Ein völlig neues Reisegefühl“, erzählt Kristine Hoffmann, die mit ihrer Mutter und ihrem Mann zum Urlaub nach Vancouver Island, der großen Insel vor Vancouver, geflogen war. Für die Rückfahrt nach Edmonton, wo sie zu Hause sind, hatten sie den Zug gewählt. „Es ging auf und ab. Ich konnte es spüren, wenn wir in die Kurven fuhren. Aber es war trotzdem angenehm“, erzählt sie.
An Flüssen und Felswänden stetig aufwärts

Der „Canadian“ ist eine Erfahrung der Entschleunigung. Handyempfang gibt es selten auf der Reise. Der Zug befindet sich inzwischen in den Rocky Mountains, einem der beiden einst schwierigsten Bauabschnitte der Bahnlinie. Vermessungsteams bestiegen Berge und suchten nach Pässen für eine geeignete Trasse. Tunnel und Brücken waren zu errichten, oft bei eisigen Temperaturen. Dabei kamen 200 Arbeiter, viele davon Chinesen, durch Lawinen ums Leben, andere wurden Opfer von Felsstürzen oder fahrlässigem Umgang mit Sprengstoff.
Daran denkt heute niemand im Zug, während dieser an Flüssen entlang mäandert, sich an Felswände schmiegt und dabei stetig aufwärts schlängelt. Noch ist die Sicht schlecht, Nebel hängt in den Bergen, keines der weltbekannten Ansichtskartenmotive des Silberwurms in bunter Landschaft stellt sich ein.

Nach knapp einem Tag Fahrt wird in Jasper eine Stunde lang Pause gemacht. Es ist kalt und feucht. Jasper liegt auf 1.000 Metern Seehöhe und ist das Zentrum eines großen, bei Touristen im Sommer wie im Winter beliebten Nationalparks. Der Ort wurde im vergangenen Jahr durch verheerende Waldbrände nahezu komplett zerstört. Doch mittlerweile befindet sich alles wieder im Aufbau, und Besucher sind ausdrücklich wieder willkommen. Im Bahnhof, der eher einer Nebenbahnstation in den Schweizer Alpen ähnelt, werden kurz vor der Abfahrt die Fahrgäste zum Einsteigen aufgefordert. Zwei Passagiere haben es nicht mehr rechtzeitig zum Zug geschafft. „Deshalb sind wir nochmals stehen geblieben, und man hat sie in einem Golf-Wagen gebracht“, erzählt Angela Cox, leitende Service-Mitarbeiterin im Waggon. Das passiere recht oft. Ist der Zug aber schon zu weit weg, heißt es zwei Tage lang auf den nächsten „Canadian“ warten.
Im vergangenen Sommer konnte der „Canadian“ wegen mehrerer Waldbrände zeitweise nicht durchgehend verkehren. „Ich glaube, es waren zehn Tage oder mehr, dass die Züge in Edmonton endeten und wir dann die Passagiere entweder mit dem Flugzeug oder dem Bus nach Vancouver befördern mussten“, sagt Cox. Die Feuer an der Westküste würden von Jahr zu Jahr schlimmer.

In Winnipeg, auf halbem Weg nach Toronto, wechselt die gesamte Mannschaft, an die 30 Bedienstete. Nach dem Frühstück hat sich Christine Pearson ins Dome-Car gesetzt, einen Waggon mit einer gläsernen Aussichtskuppel auf dem Dach, von wo aus sich die Landschaft rundum genießen lässt. Ihre beiden Kinder haben ihr die Reise zum 75. Geburtstag geschenkt. Die alte Frau gehört den First Nations an, ist also eine Indigene, aus dem Volk der Gena Denee. Daheim ist sie in der Hauptstadt von British Columbia, dem sehr Englisch anmutenden Städtchen Victoria auf Vancouver Island. Jetzt fährt sie nach Montreal und wieder zurück. Langeweile während der tagelangen Fahrten quer über den Kontinent komme bei ihr nicht auf, versichert sie.
Dennoch ist die Reise nach dem Zurücklassen der Rocky Mountains eintöniger geworden. Die Provinz Saskatchewan ist die Kornkammer Kanadas. Getreidefelder ziehen sich bis zum Horizont, links liegen die Siedlungen, rechts ragen Getreidesilos in die Höhe. Bei stundenlang gleichförmiger Aussicht wird Abwechslung im Zug von den Reisenden gerne angenommen. Etwa, wenn das Personal Verkostungen kanadischen Biers und Weins oder Quizspiele anbietet.
Prärie wechselt mit Land der Seen

Unser Zug hat zwei Stunden Verspätung. Immer wieder muss der „Canadian“ in einer Ausweiche anhalten, um entgegenkommende Güterzüge passieren zu lassen. Der Güterverkehr hat hier Vorrang vor dem Personenverkehr. Zwei Gründe gibt es dafür auf dieser transkontinentalen Route: Zum einen sind die mit Kohle, Holz oder Pottasche beladenen Cargozüge ein, zwei Kilometer lang, und sie würden, einmal in Fahrt, viel Energie zum Halten und Anfahren benötigen. Zum anderen gehört die Trasse zwischen Vancouver und Toronto den beiden großen Güterbahnen, deshalb haben deren Züge Vorrang vor dem Personenverkehr.
Viele gute Gelegenheiten, insbesondere beim Halt des Zuges, durchs Fenster die Landschaft zu beobachten. Der frühere Lehrer Victor Gladish beobachtet mit seinem Fernglas Rotdrosseln, Enten, Gänse und Möwen. „Wir kommen demnächst zum Qu’Appelle Valley“, erzählt der 71-Jährige. „Die Leute sagen, die Prärie ist langweilig. Aber wenn ich durch das Qu’Appelle Valley fahre, bin ich immer ganz ehrfürchtig vor dem, was es in diesem kleinen Teil Kanadas gibt.“
Gladish ist von Vancouver unterwegs zu Verwandten in der Provinz Ontario. Sein Bruder wird ihn an einem kleinen Bahnhof abholen. Mittels App kann dieser die aktuelle Position des Zuges feststellen und wird deshalb nicht lange an der Station warten müssen. In Hornepayne, fernab jeder menschlichen Siedlung, steigt Victor Gladish aus. Der SUV seines Bruders ist fast größer als das Haltestellenhäuschen.

Die Prärie wechselt mit der Landschaft des kanadischen Schilds. Das Land der 100.000 Seen war neben der Querung der Rocky Mountains die zweite große Herausforderung beim Bahnbau im 19. Jahrhundert: Immer wieder versank die Trasse im Sumpf oder musste auf Felsgestein angelegt werden. Heute wiegt sich der „Canadian“ durch eine an Skandinavien oder Mecklenburg-Vorpommern erinnernde Kulisse: Vorbei an einsamen, schwarzgrünen Seen mit bemoosten Steinen und Birken am Ufer, an kleinen Mooren, aus denen nackte Stämmchen sprießen. Dazwischen begegnet dem Zug Nummer zwei ostwärts der Zug Nummer eins westwärts. Zwei graue Stahlwürmer auf einem Zivilisationskorridor durch einen Park, den die Natur geschaffen hat und verwaltet. Bald werden wir Toronto erreichen. Karine Dufosse kommt aus Montpellier in Frankreich, ist 36 Jahre alt und hat tagelang im Gesellschaftswaggon ein riesiges Puzzle aus fast 500 Teilen gelegt. Sie hat drei Wochen Urlaub in den USA gemacht. Mit dem „Canadian“ fährt sie zur Ostküste und fliegt dann nach Hause. „Hier ist es sehr gesellig, man kann Leute kennenlernen, Kanadier“, sagt sie. Vor den Fenstern wird die Natur langsam zum Dorf, das Dorf zur Stadt. Toronto kommt in Sicht. Zug Nummer zwei erreicht sein Ziel zwei Stunden früher als vorgesehen. Man verabschiedet sich in der Fahrgemeinschaft, die der „Canadian“ zu einer kleinen Familie gemacht hat.