Alle diskutieren über Parkplätze, Radwege und Bahn-Verspätungen. Unser alltäglichstes Verkehrsmittel kommt in der Debatte hingegen fast nie vor. Roland Stimpel vom Verein Fuss e.V. will das ändern.
Nein, nein, ein „Wutgänger“ sei er nicht, das ist Roland Stimpel wichtig. Aber als ein Vater mit Kinderwagen wegen eines quer parkenden Fahrrads auf die Straße ausweichen muss, bricht es dann doch aus ihm heraus: „Berlin-Mitte ist ein Failed State! Die Behörden haben hier vollständig kapituliert.“ Die harschen Worte kommen von einem Mann, der sich vorgenommen hat, auf Deutschlands am meisten vernachlässigtes Verkehrsmittel hinzuweisen: das Zu-Fuß-Gehen. Roland Stimpel, 65 Jahre alt, ist Vorstandsmitglied im Verein Fuss e. V. Während die meisten Deutschen den Autoclub ADAC und viele Großstädter den Fahrradverband ADFC kennen, fristet die offizielle Fußgängerlobby ein Schattendasein.
Doch es gibt sie. Stimpel, ein bedachter Mann mit grauem Lockenkopf und langem Wollmantel, repräsentiert den rund 1.000 Mitglieder starken Verein. Dessen Ziel: eine Politik, die nicht bei Schnellradwegen und Busspuren endet, sondern das alltäglichste aller Verkehrsmittel in den Blick nimmt: die menschlichen Füße.
Im Schnitt alle 77 Meter ein Hindernis
„Das Problem fängt direkt vor der Haustür an“, sagt Stimpel, während wir die Planckstraße entlangschlendern. Die Luft ist kalt an diesem Morgen; von der Spree weht eine feuchte Brise herüber. Während eines kleinen Spaziergangs über etwas mehr als einen Kilometer möchte der Fuß-Lobbyist demonstrieren, was auf bundesdeutschen Bürgersteigen im Argen liegt. Also – aus seiner Sicht – eigentlich fast alles.
Kaum hat er das Haus verlassen, wölbt sich auch schon das Kopfsteinpflaster. Ein Rohr ragt aus dem Boden, daneben ein Wald aus provisorischen Verkehrsschildern. „Die Fahrbahn ist immer heilig“, sagt Stimpel, „aber der Gehweg verkommt zur Resterampe.“ Er spricht ruhig, aber anhand seiner Wortwahl merkt man, wie es in ihm brodelt. Bevor er in Rente ging, war er Journalist, und noch heute schreibt er regelmäßig Gastbeiträge. „Eigentlich bin ich aber im Vollzeit-Ehrenamt“, sagt Stimpel und meint sein Engagement für Fuss e. V. – eine frühe Verrentung machte es möglich.
Die nächste Kreuzung: In der Ferne saust eine S-Bahn über die Spree, die Morgensonne taucht die Uferpromenade in ein orangefarbenes Licht. Nur: Wie überquert man diese viel befahrenen Straßen denn jetzt? Eine Ampel gibt es nicht, zumindest für Fußgänger. „Und da liegt auch schon der erste E-Scooter“, bemerkt Stimpel. Durchschnittlich alle 77 Meter taucht ein solches Hindernis auf einem Bürgersteig auf, wie sein Verband im Rahmen einer Studie nachgewiesen hat.
Berlin-Mitte, ein Failed State? Diesen Ausdruck hört Almut Neumann, die zuständige Bezirksstadträtin, natürlich nicht gern. Aber sie räumt ein: „An vielen Stellen ist die Situation nicht so, wie man sie sich wünschen würde.“ Die Grünen-Politikerin kennt Roland Stimpel, hat schon mehrfach mit ihm diskutiert – ein konstruktiver Austausch, wie sie betont. Schließlich sagt sie: „Wir haben ein Riesenproblem.“ Sicherere Fußwege, weniger Falschparker, bessere Regelungen für E-Scooter – all das hat sie sich nach eigenen Angaben vorgenommen. „Ich wünschte, wir wären in der Vergangenheit schneller gewesen“, sagt Neumann, „aber wir arbeiten mit Hochdruck daran.“
Wir gehen weiter, die Spree entlang gen Pergamon-Museum, zunächst ohne weitere Vorkommnisse. Doch nur wenige Meter später ist Schluss: Das Geländer einer Brücke ragt komplett in den Bürgersteig hinein. Um weiterzukommen, muss man entweder übers Geländer klettern oder auf die Fahrbahn treten. „Für uns ist das nur ärgerlich“, sagt Stimpel, „aber stellen Sie sich mal vor, Sie haben eine Behinderung. Barrierefreiheit? Davon kannste hier träumen.“
Wie genau eine fußgängerfreundliche Straße auszusehen hat, steht im Forderungskatalog von Fuss e. V.: Der Gehweg soll mindestens 2,50 Meter breit sein und möglichst nur von „Menschen auf zwei Beinen“ genutzt werden – eine Formulierung, die sich vor allem gegen Radler und E-Scooter-Fahrer richtet. Überhaupt, die Radler. Zu ihnen hat Stimpel eine zweischneidige Meinung. Klar seien Zweiräder umweltfreundlicher als Autos. „Aber ich erlebe sie oft als aggressive, verdrängende Verkehrsteilnehmer“, sagt Stimpel. Im VCD, dem ökologisch orientierten Verkehrsclub, ist er ebenfalls Mitglied, wenngleich dieser für seinen Geschmack zu wenig an Menschen auf zwei Beinen denkt. Er seufzt. „Das Fahrrad und ich, das ist wie eine enttäuschte Liebe.“
Berlin-Mitte setzt auf Abschleppen
Auf der anderen Seite der Spree verengt sich der Bürgersteig. Links ein Stromkasten, rechts ein Restaurant, das draußen Tische und Stühle aufgestellt hat. „Wenn jetzt noch ein Lieferwagen auf dem Gehweg parkt, ist alles verstopft“, schimpft Stimpel, der nicht nur asphalterprobte Füße, sondern offenbar auch hellseherische Fähigkeiten besitzt. Einige Meter weiter, auf der Tucholskystraße, steht tatsächlich ein Kastenwagen vor einer Hauseinfahrt. Jetzt platzt Stimpel der Kragen: „Hier kommt niemand mehr durch“, herrscht er den Fahrer an. „Fahren Sie mal einen Meter zurück!“ Der verdutzte Fahrer tut, wie ihm geheißen, Punktsieg für den Fußverkehr!
Bezirksstadträtin Neumann kann den Frust nachvollziehen: „Viele Auto- aber auch Radfahrer nehmen die Straßenverkehrsordnung nur als Empfehlung wahr“, sagt Neumann. „Wenn man eine Person, die im Rollstuhl sitzt, zwingt, auf die Fahrbahn auszuweichen, ist das nicht nur ärgerlich, sondern eine Gefahr.“ Umso wichtiger ist ihr die Botschaft, dass etwas dagegen getan wird. „Die Bußgelder sind oft zu niedrig, um abzuschrecken. Deshalb setzen wir in Berlin-Mitte verstärkt aufs Abschleppen.“ Und tatsächlich: Laut offizieller Statistik wurden 2021 rund 4.000 Autos abgeschleppt. Ein Jahr später kam der Bezirk bereits auf knapp 6.000 „Umsetzungen“, wie das Abschleppen im Amtsdeutsch heißt.
Auch Roland Stimpel hat kein Problem damit, auf Konfrontationskurs zu gehen. Geboren wurde er in Göttingen, fürs Studium der Stadtplanung kam er nach Berlin. Seine „Karriere“ als Aktivist begann, als er sich in den 80er-Jahren gegen die geplante Westtangente engagierte. „Wenn wir keinen Erfolg gehabt hätten, gäbe es heute eine sechsspurige Autobahn am Reichstag“, sagt Stimpel. „Wir warten heute noch auf das Dankesschreiben.“ Es ist einer der wenigen Augenblicke, in denen er nicht komplett ernst schaut.
Autofahrer würden auf Barrikaden gehen
Seine Freude endet bei einem Falschparker an der nächsten Ecke. Stimpel ärgert sich, dass er seine Aufkleber mit dem Slogan „Scheiße geparkt“ nicht dabeihat. „Wir kleben uns nicht auf der Straße fest“, sagt er, „aber wir kleben unsere Botschaften.“ Ist das nicht illegal? „Sachbeschädigung liegt nur dann vor, wenn sich der Kleber nicht ablösen lässt“, erklärt Stimpel. Der Bürgeraktivist klingt nun wie ein Beamter. Doch er will nicht alles schlechtreden. Zwischen all den E-Scootern, Mama-Taxis und quer stehenden Verkehrszeichen identifiziert der Ober-Fußgänger durchaus Fortschritte: An der Ecke Tucholskystraße/Auguststraße wurden Autoparkplätze zu Fahrradstellflächen umgewandelt. Dahinter hat ein Restaurant seine Außengastronomie vom Gehweg auf die Fahrbahn verlagert. „Kleine ermutigende Anfänge“, nennt es Stimpel – also doch kein Failed State.
Dafür erblickt er 100 Meter weiter etwas, das sein Blut erneut in Wallung versetzt: ein Werbeschild, platziert mitten auf dem Gehweg. Stimpel fackelt nicht lange und stellt das Schild vor den Eingang des dazugehörigen Geschäfts. Als ein verwunderter Mitarbeiter hervoreilt, herrscht Stimpel ihn an: „Haben Sie eine Sondernutzungsgenehmigung? Wenn nicht, haben Sie gleich ’ne Anzeige am Hals!“
Der belesene Fußgänger-Aktivist wirkt nun seltsam verbissen, wie eine Ein-Mann-Armee, bewaffnet mit Gesetzestexten und bösen Sprüchen. Ist er vielleicht doch ein Wutgänger? Nein, sagt Stimpel, nun wieder ganz ruhig. Er erzählt von Hardcore-Aktivisten, die „ganz schnell wieder weg waren, weil wir ihnen nicht radikal genug sind. Die hätten am liebsten eine Sitzblockade auf dem Radweg veranstaltet.“
Am Ende des Spaziergangs setzt er sich auf eine Bank, Zeit für ein Fazit. Trotz aller Widrigkeiten sind wir unbeschadet angekommen. „Aber wir haben auch keine Behinderung“, betont Stimpel und zieht einen Vergleich: „Wenn es auf der Fahrbahn so viele Blockaden gäbe wie auf dem Gehweg, würden sich Autofahrer sofort beschweren. Als Fußgänger wurschtelt man sich aber einfach durch.“ Es sei denn natürlich, man ist Mitglied bei Fuss e. V.