PD Dr. Bhupesh K. Prusty vom Institut für Virologie und Immunbiologie an der Universität Würzburg gilt als einer der renommiertesten Forscher für ME/CFS. Mit FORUM sprach er unter anderem über die Rolle von Herpesviren bei der Entstehung der Krankheit und mitochondriale Dysfunktion.
Herr Dr. Prusty, muss jeder, der schon einmal Herpes oder den Epstein-Barr-Virus (EBV) hatte Angst haben, irgendwann an ME/CFS zu erkranken? Oder wovon ist das abhängig?
Neun verschiedene Arten von Herpesviren können Menschen infizieren. Fast jeder hat einen oder mehrere Typen von Herpesviren in seinem Körper. Das heißt wir müssen nicht in Panik geraten und denken, dass uns die Reaktivierung dieser Viren krank machen wird. Es tragen auch Umweltfaktoren und genetische Faktoren zur Krankheitsentstehung bei. Wir haben latente Herpesviren. Diese Herpesviren reaktivieren gelegentlich unter verschiedenen physiologischen Bedingungen, einschließlich einer geringen zellulären Immunität. Wir verfügen jedoch über einen inhärenten Abwehrmechanismus in unserem Körper – die sogenannte angeborene Immunität –, der in Kraft tritt, sobald diese Viren in unseren Zellen zu reaktivieren beginnen. Kurz gesagt: Nicht jeder Fall einer Virusreaktivierung kann die Entwicklung chronischer Krankheiten verursachen.
ME/CFS kann nicht nur durch das humane Herpesvirus HHV-6, sondern auch durch EBV oder Covid-19 ausgelöst werden. Welcher Virus ist am wahrscheinlichsten Auslöser?
Covid-19 kam erst vor ein paar Jahren, aber wir hatten ME/CFS und andere postvirale Erkrankungen schon vor der Pandemie. Covid-19 spielt eine eigenständige Rolle in diesem Prozess. Wir haben in der Vergangenheit gezeigt, dass Trigger wie Covid-19 oder andere pathogene Infektionen, insbesondere bakterielle Infektionen wie Chlamydien, Herpesviren reaktivieren können. HHV-6 ist nur einer der neun verschiedenen Herpesviren. EBV ist ein weiterer. Beide können ME/CFS verursachen, allein oder zusammen. Es ist möglicherweise von Person zu Person unterschiedlich. Jedes dieser Viren spielt im Krankheitsentstehungsprozess eine andere Rolle.
Sie haben auch herausgefunden, dass bei Erkrankten eine mitochondriale Dysfunktion vorliegt. Was nehmen Sie an, wie diese entsteht?
Mitochondriale Dysfunktion ist ein charakteristisches Merkmal von ME/CFS. Sie kann aufgrund vieler Faktoren entstehen. Wir fokussieren uns jedoch auf das Verständnis virusbedingter Faktoren, die mitochondriale Dysfunktion verursachen können. In der Vergangenheit haben wir gezeigt, dass eine kurze, nicht-kodierende RNA wie miRNA, umgesetzt durch HHV-6, mitochondriale Dysfunktion verursachen kann. Im aktuellen Preprint (Vorab-Publikation; eine wissenschaftliche Veröffentlichung, die schon der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt, aber noch nicht in einem Peer-Review-Verfahren begutachtet wurde, Anm. d. Red.) haben wir eine Klasse von Proteinen namens dUTPases diskutiert, die die Mitochondrien auch schädigen können. Wir konnten auch beweisen, dass Autoantikörper, die bei schwerkranken ME/CFS-Patienten gefunden wurden, mitochondriale Dysfunktion verursachen können. Daher scheint die mitochondriale Dysfunktion bei ME/CFS die kumulative Wirkung von beidem zu sein – Herpesvirus-Infektion und Krankheitsprozess.
Gibt es Nahrungsmittelergänzungen oder Medikamente, die gegen mitochondriale Dysfunktion helfen können?
Mitochondriale Dysfunktion ist ein komplexer Prozess, bei dem mitochondriale Struktur, Gesundheit und Stoffwechsel involviert sind. Meines Wissens nach kann sich keines der Nahrungsergänzungsmittel um alle Aspekte der mitochondrialen Gesundheit kümmern. Zwar können wir bestimmte Aspekte der mitochondrialen Gesundheit durch Nahrungsergänzungsmittel verbessern, wir können aber den biologischen Prozess von mitochondrialer Dysfunktion nicht mit Nahrungsergänzungsmitteln behandeln.
Was konnten Sie sonst noch über die Ursachen beziehungsweise den Pathomechanismus von ME/CFS herausfinden?
Wir haben die mögliche Rolle der Herpesvirus-Reaktivierung bei ME/CFS besprochen. Allerdings haben wir auch begonnen, die Rolle anderer Faktoren bei der Krankheitsentstehung zu verstehen. Zum Beispiel – die Sars-CoV-2-Infektion und die aktuelle Pandemie als Chance nehmend – können wir jetzt lernen, wie natürliche Antikörper eine entscheidende Rolle im Prozess der Entwicklung der Autoimmunität spielen können, die eins der wesentlichen Merkmale bei der Entwicklung von postviraler Krankheit zu sein scheint. Wir haben außerdem die mögliche Rolle von Proteinen wie Fibronectin im chronischen Entzündungsprozess herausgefunden.
Warum ist es so schwer, einen einheitlichen Biomarker für ME/CFS zu finden?
ME/CFS ist eine spezielle Krankheit, die sich bei Patienten im Laufe der Zeit allmählich entwickelt. Bestimmte klinische Merkmale können plötzlich auftreten, aber die gesamte Krankheit entwickelt sich schrittweise. Bis die Patienten in die Klinik kommen, haben sie bereits die Anfangsstadien der Krankheitsentwicklung durchlaufen was es sehr schwierig macht, die Grundursachen der Krankheit zu verstehen. Darüber hinaus haben wir kürzlich in unserem Preprint gezeigt, dass sich ME/CFS in zwei große Gruppen unterteilen lässt: in das erste Entwicklungsstadium der Krankheit, bei dem es sich um ein akutes Stadium handelt, und in das zweite Entwicklungsstadium, ein chronisches Stadium. Der Großteil der Patienten in der Klinik kommt im chronischen Stadium der Erkrankung, wobei sich die klinische Darstellung von Patient zu Patient unterscheidet. In diesem Stadium zeigt sich bei dem einen Patienten zum Beispiel das Mastzellaktivierungssyndrom als klinisches Hauptmerkmal, während es bei anderen Bindegewebserkrankungen sind. Somit ist es sehr schwierig einen einheitlichen Biomarker für ME/CFS durch Untersuchung der klinischen Darstellung der Krankheit bei Patienten zu finden.
Wie schätzen Sie die Chance ein, in den nächsten Jahren noch mehr über die Ursachen herauszufinden und einen Biomarker zu finden?
In den vergangenen Jahren haben wir enorme Fortschritte beim Verständnis der Pathomechanismen der Krankheit gemacht. Wir kennen bereits mehrere potenzielle Faktoren der Herpesviren, die eine entscheidende Rolle bei der Krankheitsentstehung spielen können. Kürzlich haben wir auch den Mechanismus der Entwicklung von Autoimmunität bei postviralen Erkrankungen gefunden, der zur Entwicklung chronischer Entzündungen und mitochondrialer Dysfunktion beiträgt. Derzeit arbeiten wir an der Validierung eines potenziellen Biomarkers. Es gibt viele weitere Veröffentlichungen, in denen andere Forscher potenzielle Biomarker für ME/CFS diskutiert haben. Unser Ziel ist es, die markantesten Marker zu finden, die in Kliniken praktisch eingesetzt werden können, um ME/CFS zu diagnostizieren. Wir sind sehr zuversichtlich, dass es in den kommenden Jahren möglich sein wird, Biomarker für ME/CFS zu validieren.
Welche Ziele hat Ihre Forschung aktuell?
In unserem Labor beschäftigen wir uns derzeit mit vielen Aspekten von ME/CFS. Einer der wichtigsten Aspekte, auf die wir uns derzeit konzentrieren, ist die Validierung der Biomarker für ME/CFS und andere ähnliche postvirale Erkrankungen unter Verwendung größerer Patienten-Kohorten, die von verschiedenen geografischen Regionen auf der Welt gesammelt wurden. Während wir mehr über den Pathomechanismus von ME/CFS erfahren, versuchen wir auch Tiermodelle zu entwickeln, anhand derer wir den Krankheitsentwicklungsprozess verstehen und Behandlungsmöglichkeiten finden können. Behandlungen können auf verschiedenen Ebenen erreicht werden. Entweder durch Stoppen des Virus-Reaktivierungsprozesses oder durch die Bekämpfung der nachgelagerten Auswirkungen der Virusreaktivierung im Hinblick auf mitochondriale Dysfunktion, Autoimmunität, Entzündung, Immunmodulation (Veränderung des Immunsystems durch pharmakologisch wirksame Stoffe, Anm. d. Red.) et cetera. Wir versuchen, mehrere innovative Ansätze anzuwenden, um in diese Prozesse auf mehreren Ebenen einzugreifen.