Im September beginnt der erste vom Bundestag eingesetzte Bürgerrat seine Arbeit. 160 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger sollen bis Februar Vorschläge für die Zukunft der Ernährung erarbeiten. Andere Räte nehmen bereits Einfluss auf die Politik.
Kaum jemand kennt sie, aber sie arbeiten mittlerweile in vielen Teilen der Welt: Bürgerräte. Beispiel Irland. Dort haben 2014 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger aus allen Kreisen und Schichten der Bevölkerung eine für das katholische Land revolutionäre Reform vorgeschlagen: die Einführung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare und eine Erleichterung von Abtreibungen. Anschließend hat die Mehrheit der Irinnen und Iren die Empfehlungen in einer Volksabstimmung angenommen. Kaum jemand hatte das für möglich gehalten.
Erfolgreich war der irische Bürgerrat (Citizen’ Assembly) unter anderem deshalb, weil Fachleute aller Richtungen die Mitglieder des Bürgerrats gründlich informiert und beraten haben. Auch katholische Würdenträger konnten ihre Positionen einbringen. Die Bürgerräte waren annähernd repräsentativ ausgeloste Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebens- und Bildungswegen. Entscheidend war jedoch, dass das Parlament den Bürgerrat eingesetzt und seine Empfehlungen letztlich ernst genommen hatte.
Das Modell machte in Irland Schule. 2018 legte der irische Klima-Bürgerrat, die Citizens’ Assembly on Climate Change, einen Klima-Aktionsplan vor, mit dem Irland seine Treibhausgas-Emissionen von 2021 bis 2030 um 30 Prozent senken will. Einige der 13 Empfehlungen hat die Regierung umgesetzt.
In Deutschland hat der bundesweite Bürgerrat Klima 2021 in zwölf professionell moderierten Sitzungen ein Bürgergutachten zum Klimaschutz erarbeitet. Der Bürgerrat war von den „Scientists for Future“ ins Leben gerufen worden. In der Liste der Empfehlungen finden sich bekannte Vorschläge wie ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen, 80 auf Landstraßen und 30 innerorts ebenso wie das Verbot des Einbaus neuer Ölheizungen ab 2026 sowie der ökologische Umbau der Landwirtschaft.
Das Problem: Nur wenige Medien haben über die Arbeit des Bürgerrats Klima berichtet. So kannten ihn einer Umfrage zufolge nur neun Prozent der Bevölkerung. Dennoch ergab eine Forsa-Umfrage, dass die Mehrheit die Ergebnisse begrüßte. 79 Prozent der Befragten sagten, dass die Politik die Vorschläge des Bürgerrats „als Orientierungshilfe“ nutzen solle.
Weniger anfällig für Lobbyisten
Tatsächlich finden sich einige Vorschläge aus dem Bürgergutachten in der aktuellen Regierungspolitik wieder: so etwa die Vorgabe, dass die Bundesländer zwei Prozent ihrer Landesfläche für den Bau von Windrädern und Solaranlagen öffnen müssen. Auch der Kohleausstieg 2030 ist beschlossen, ebenso das Ziel, bis 2030 30 Prozent der Landwirtschaft auf Öko-Landbau umzustellen. Und: Ab 2024 müssen neue Gewerbebauten mit Photovoltaikanlagen ausgestattet werden. Andere Vorhaben wie das Verbot neuer Öl- und Gasheizungen sind an der FDP und an der Kampagne gegen das Gebäudeenergiegesetz gescheitert.
Dahinter stecken oft wirtschaftliche Interessen, die Einfluss auf Politikerinnen und Politiker nehmen. Bürgerräte sind aus verschiedenen Gründen weniger anfällig für den Einfluss von Lobbyisten. Sie kommen nur wenige Male zusammen und lösen sich nach Erfüllung ihres Auftrags wieder auf. Interessengruppen haben also wenig Zeit, sie zu beeinflussen. Über ihre Zusammensetzung entscheidet das Los und nicht das Ergebnis von Wahlkämpfen. Auch der Polarisierung der Gesellschaft wirken die Bürgerräte entgegen. Hier begegnen sich Menschen aus völlig unterschiedlichen Schichten und Gruppen der Gesellschaft und überwinden so ihre Filterblasen. „Ich habe die Perspektiven von Leuten gehört, denen ich sonst nie begegnet wäre“, bilanziert der Bielefelder Markus Niederastroth seine Erfahrung als Teilnehmer eines Bürgerrats.
Charlotte Felthöfer hat beim deutschlandweiten Bürgerrat zu Deutschlands Rolle in der Welt mitgemacht. Ins Leben gerufen hatten den Bürgerrat die Stiftungen Mercator und Schöpflin sowie der Verein Mehr Demokratie. Die Freiburger Politik-Studentin war „beeindruckt, wie Leute da aufgeblüht sind, die sonst mit Politik nichts zu tun haben“. Ex-Teilnehmer Martin Coordes hat die Diskussionen „als Crashkurs in Politik“ erlebt. Er schätzt, dass ein Drittel der ehemaligen Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich anschließend, wie er selbst, weiter politisch engagieren. Coordes habe inzwischen den Bürgermeister seiner Heimatgemeinde überzeugt, vor Ort einen Bürgerrat einzurichten. Als erfahrener Organisationsentwickler in der Industrie kenne er sich damit aus, Menschen zu organisieren und miteinander ins Gespräch zu bringen. Seinen Ruhestand will der Maschinenbauingenieur nun dazu nutzen, „etwas Sinnvolles zu tun“. So arbeitet der 66-Jährige im Netzwerk der 13 niedersächsischen Bürgerratsinitiativen mit. Auf Veranstaltungen berichtet er von seinen Erfahrungen.
Schade findet er, dass „so viel über, aber so wenig mit Bürgerräten gesprochen wird“. Diese sieht er als gute Möglichkeit, Menschen für politisches Engagement zu gewinnen und ihnen das Vertrauen in die Politik zurückzugeben. Die Teilnehmenden hätten „es sehr genossen, gehört und gesehen zu werden“.
Sachlich statt zugespitzt
Zwei Drittel der Menschen in Deutschland wünschen sich, dass gewählte Politikerinnen und Politiker die Bürgerinnen und Bürger „anhören und deren Empfehlungen in ihre Überlegungen einbeziehen“. Dies ergab 2022 das jährliche Demokratie-Monitoring der Universität Hohenheim. In der Ende August veröffentlichten Umfrage sagte die Hälfte der Befragten, dass sie Parteien, Bundesregierung und Europäischem Parlament misstrauen.
Anders als im professionellen Politikbetrieb mit seinem zugespitzten, aufgeregten und an maximaler Aufmerksamkeit orientierten Diskussionsstil geht es in den Bürgerräten eher differenziert und sachlich zu. Ex-Teilnehmer Niederastroth erinnert sich an „super respektvolle, höfliche Gespräche“.
Der Schweizer Wissenschaftler André Bächtiger leitet an der Uni Stuttgart das Institut für Sozialwissenschaften. Dort forscht er zu politischen Theorien und Demokratie. Seiner Erfahrung nach liefern Bürgerräte Politikerinnen und Politikern zuverlässigere Einblicke in die Meinungen der Menschen als die zahlreichen Umfragen. Forschungsergebnisse belegten, dass die Abgeordneten ihre Wählerinnen und Wähler für konservativer halten, als diese tatsächlich sind. Schon deshalb blieben viele sinnvolle Veränderungen auf der Strecke. Anders als Volksabstimmungen ermöglichten die differenzierten Diskussionen in Bürgerräten Zwischentöne statt eines platten Ja oder Nein zu einer Frage.
Viele Politiker vorwiegend aus CDU und CSU lehnen Bürgerräte als „Losdemokratie“ ab. Sie verweisen auf das Grundgesetz. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es dort in Artikel 20 Absatz 2. „Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt“. Von Bürgerräten steht da nichts. Allerdings verbietet die Verfassung auch nicht, dass sich gewählte Politiker von Bürgerräten mit sinnvollen Vorschlägen unterstützen lassen können.