Der Straßengüterverkehr soll massiv auf Schiene und Schiff verlagert werden, darüber sind sich alle einig. Doch ist nicht viel davon zu bemerken. Dabei will die EU bis 2050 klimaneutral sein.
Der Verkehr in der EU wächst und wächst, sowohl der Personen- wie der Gütertransport. Straßen und Schienen sind aber nur ungenügend dafür ausgelegt, die Infrastruktur ist vielfach sanierungsbedürftig. Das erzeugt Stau, sagt der Verkehrswissenschaftler Günter Emberger von der Technischen Universität Wien. „Sehr viel dieser Infrastruktur ist in den Jahren 1970–1980 gebaut worden. Diese Infrastrukturen haben das Ende ihrer Lebensdauer erreicht und wir müssten jetzt diese Infrastrukturen renovieren.“
Das bedeutet, dass man sie teilweise sperrt und dadurch wieder Stau erzeugt. Ein Phänomen, das Urs Maier von der Agora Verkehrswende bestätigt: „Insbesondere die Brücken in Deutschland sind zum Teil sehr marode, zum Beispiel musste die Rahmede-Talbrücke gesprengt werden.“ Schon lange habe man vom dringenden Sanierungsbedarf gewusst, dennoch seien die Arbeiten nicht finanziert worden. „Am Ende musste die Brücke tatsächlich gesprengt werden, und es wird jetzt sehr aufwendig eine neue Brücke gebaut“, sagt Maier. „Dadurch gibt es sehr lange sehr problematische Bedingungen für die Menschen, die dort im Umfeld leben, verursacht von Umleitungen durch Ortschaften.“
„Enormer Nachholbedarf“
Doch nicht nur auf den Straßen herrscht Nachholbedarf, auch um die Schieneninfrastruktur ist es nicht zum Besten bestellt, wie der Geschäftsführer der European Locomotive Leasing Group (ELL), der frühere österreichische Bundeskanzler Christian Kern, bemerkt. „Wir wissen, dass viele Märkte und viele Länder zu wenig Geld in die Bahn investiert haben. Da ist sehr viel Geld in die Straßen geflossen, auch mit europäischen Förderungen.“ Kern spricht von „enormem Nachholbedarf“. Das Bewusstsein dafür wachse jetzt, sagt er. Man dürfe optimistisch sein, dass verstanden werde, dass es keinen Green Deal ohne effiziente Bahn gibt.
Kerns Unternehmen ELL verleast in ganz Europa Lokomotiven. Deshalb überrascht es nicht, wo er die größte Herausforderung für die EU im Verkehr sieht: „Eindeutig in der Nationalstaaterei. Wir sind noch mit viel zu vielen nationalen Sonderregeln konfrontiert.“ Bei der Bahn existiere nicht einmal eine gemeinsame Sprache, die alle Lokführer international verbinde. Im Flugverkehr sei das schon lange Englisch. „Das führt dazu, dass man dann natürlich an allen Grenzen die Lokomotivführer wechseln muss“, klagt Kern. „Und es gibt ähnliche Hürden in der Technik zu überwinden, wo es auch völlig zersplitterte nationale Vorstellungen gibt, wie eine Lok oder ein Zug ausgerüstet sein muss.“
Wer von einem Land in ein anderes reisen möchte, das nicht unmittelbar benachbart ist, kennt das Problem im Personenverkehr: Es gibt keine internationalen Fahrscheine. Und auch sonst bleibt noch viel zu tun, damit im internationalen Tarifdschungel Transparenz und Benutzerfreundlichkeit einkehren.
Bei der Eisenbahn stößt die EU buchstäblich an Grenzen, bestätigt Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene. „Ohne Infrastruktur kein grenzüberschreitender Schienenverkehr“, stellt er fest. „Da hat die EU-Kommission jahrelang geschlafen. Man hat sich fast ausschließlich auf intramodalen Wettbewerb fokussiert, das heißt also den Wettbewerb der Bahnen untereinander.“ Dieses große EU-weite verkehrspolitische Ziel habe durchaus Effizienz-Fortschritte gebracht, gerade auch im Schienengüterverkehr, räumt er ein. „Aber man hat die Nationalstaaten völlig alleine gelassen mit dem Thema Schienen-Infrastruktur. Und das fällt uns jetzt auf die Füße. Das dauert. Das dauert Jahre.“ Diese Einschränkungen würden aber spüren lassen, dass die Nachfrage sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr „viel, viel größer ist, als die Bahn im Moment leisten und liefern kann.“

Dabei sieht sich die EU einem weiteren Riesenproblem gegenüber, das Europa in naher Zukunft noch sehr zu schaffen machen wird: dem Personalmangel. Es wird noch länger dauern, bis die Technologie des autonomen Fahrens auf Straße und Schiene so weit ist, den Mangel an Fahrpersonal ausgleichen zu können. Gerade in einer Zeit, da der öffentliche Verkehr seine große Renaissance erlebt, fehlen Fahrer und Fahrerinnen bei Bus und Bahn. Die dann auf einer Infrastruktur unterwegs sein sollen, die zu wünschen übrig lässt.
Auch was ihre Internationalität betrifft: Von den 57 Grenzübergängen Deutschlands auf der Schiene seien nur 28 elektrifiziert, klagt Dirk Flege: „Neben den Oberleitungen, die an den Grenzübergängen fehlen, haben wir einen Flickenteppich an Leit- und Sicherungstechnologie im Eisenbahnverkehr in Europa. Dieses Zauberwort seit vielen, vielen Jahren, ETCS, European Train Control System, zur Vereinfachung auf einen europäischen Standard, das kommt nicht wirklich voran.“ Nur zwei Prozent der deutschen Schieneninfrastruktur seien bereits mit diesem europäischem Leit- und Sicherungssystem ausgerüstet. „Das ist weit weg von dem, was die Politik seit Jahren verspricht“, klagt Flege. „Da muss massiv Tempo aufgenommen werden, dass wir hier das technische Überqueren der Grenzen einfach leichter machen.“
Hinzu kommt, dass das Schienennetz Europas in den letzten Jahrzehnten deutlich geschrumpft ist. Nebenstrecken wurden aufgelassen, Anschlussgleise zu Wirtschaftsunternehmen abgebaut. Gleichzeitig wurde der Straßenbau vorangetrieben. „Und das ist natürlich keine nachhaltige und zukunftsfähige Verkehrspolitik, die sowohl die EU-Kommission als auch die Nationalstaaten in den meisten europäischen Staaten in den vergangenen Jahrzehnten betrieben haben“, sagt Dirk Flege.
Nachfrage größer als das Angebot
Urs Maier von der Agora Verkehrswende lobt in diesem Zusammenhang die Alpenländer. „In den Nachbarländern Österreich und Schweiz wird deutlich mehr investiert in die Schiene. Da gibt es auch eine wesentlich pünktlichere Bahn, sowohl Güter- als auch Personenzüge.“ Und obwohl die Mobilitätswende das aktuelle Schlagwort in der europäischen Verkehrspolitik ist, wird vielerorts weiterhin auch nach Lösungen im Straßengüterverkehr gesucht: Etwa mit Versuchsstrecken auf Autobahnen mit Oberleitungen für Lkw oder der Vermarktung von besonders langen Lkw, den sogenannten Gigalinern, die dem Technik-Professor Emberger ein Dorn im Auge sind: „Der Gigaliner ist eine Aufweichung der Tonnage-Beschränkung auf der Straße. Das ist kontraproduktiv.“
Für den Wissenschaftler ist aber nicht nur die EU gefordert, sondern jeder Einzelne: „Wir haben in der westlichen Welt ein Wirtschaftssystem geschaffen, das auf Wachstum aufgebaut ist.“ Ein auf Wachstum aufgebautes System in einer endlichen, beschränkten Welt könne nicht ewig gutgehen, warnt er. „Es ist kein Menschenrecht, dass ein EU-Bürger 12.000 Kilometer mit einem Privat-Pkw zurücklegen kann und dann noch 4.000 Kilometer mit der Bahn zurücklegen kann. Und dass er sagt, ich habe zwei Fernreisen, eine nach Thailand und eine nach Amerika, und dann darf ich noch zwei Wochen nach Mallorca fliegen, und nach London. Das ist gesellschaftlich nicht tragbar.“ Die nächste Generation werde sich überlegen müssen, ob sie nicht mit weniger Mobilität auch glücklich sein könne.
Schließlich wird auch der Klimawandel dazu beitragen, dass sich etwas ändern muss, vor allem in den Städten, sagt Emberger. „Viele Menschen werden in Zukunft in Städten leben, und durch den Klimawandel wird es in den Städten wärmer werden.“ Deshalb müsse die Verkehrsplanung und die Flächenaufteilung in den Städten neu gestaltet werden, damit sich die Menschen zu Fuß und mit dem öffentlichen Verkehr sowie dem Fahrrad bewegen können.
Dafür müsse die erforderliche Infrastruktur in den Städten geschaffen werden. Darum meint der Verkehrswissenschaftler: „Wir müssen überdenken, ob es überhaupt noch zeitgemäß ist, im öffentlichen Raum gratis Abstellplätze für Autos zuzulassen, oder ob wir den öffentlichen Raum nicht besser nutzen können für andere Aktivitäten, für Beschattungen durch Bäume, durch Schaffung attraktiver Lebensräume, sodass die Menschen sich wieder in der Stadt aufhalten können, ohne dass ihnen die Sonne auf den Kopf scheint, und sie überleben können.“