Legendärer Fotograf, legendärer Ort: Miron Zownir stellt großformatige Schwarz-Weiß-Bilder aus seiner „Berlin Noir“-Serie am Club „Tresor“ aus.

Herr Zownir, Sie betrachten Berlin bewusster als die meisten Menschen. Was ist der Unterschied zwischen dem Berlin 1975 und dem 50 Jahre später – mal abgesehen davon, dass 1975 ein Teil der Stadt hinter einer Mauer lag?
Natürlich hat die Mauer den größten Unterschied gemacht. Die Polarisierung zwischen Ost und West, die besondere Lage, die Isolation, der Ausnahmestatus, die Perspektivlosigkeit. Im Herzen der DDR eingemauert zu sein und bei einer internationalen Krise potenziell in einem Open-Air-Gefängnis zu leben, war eine Tatsache, an die man sich gewöhnen, sie zur Kenntnis nehmen oder verdrängen konnte. Bis man wieder in einer Sackgasse landete, vor einem versperrten Grenzübergang stand oder von einem Vopo mit einem Fernrohr beobachtet wurde, als ob man von der falschen Seite aus über die Mauer klettern wollte.
Wie war dieses Berlin?
In den 70er-Jahren sah man West-Berlin noch immer die Nachkriegswehen an, mit mehr Brachland, Dead Ends und vernachlässigten Wohnruinen als irgendeine andere Stadt westlich des Eisernen Vorhangs. Die sanitären Einrichtungen waren mangelhaft, die Mieten billig, und jeder unmotivierte Herumtreiber konnte einen Job finden, wenn er sich nur bis zur nächsten Arbeitsvermittlungsstelle schleppen konnte. Alles war subventioniert, in den Händen politischer oder karitativer Organisationen, als hätte man West-Berlin ohne ihre Solidarität oder Durchhalteparolen nicht aushalten können. Dennoch boomte die Stadt mit Kinos, Kneipen, Punkclubs, Discos, alternativen Verlagen, Theatern, Happenings, Drogenhöhlen und Sexclubs. Man konnte ohne großen finanziellen Aufwand produzieren, gestalten, inszenieren, experimentieren. Und man konnte immer einen kostenlosen Anwalt finden, der einem half, wenn man auf einer Demo verhaftet wurde oder sonstige Schwierigkeiten mit der Polizei, seinen Arbeitgebern oder Vermietern hatte. Vorausgesetzt, dass man wusste, an wen man sich wenden musste. Aber West-Berlin war nie eine Hipster-Stadt. Ihr Charme lag in ihrer morbiden Verlassenheit und melancholischen Finsternis. Selbst die modernen Mietskasernen, die alte, heruntergekommene Nachbarschaften ersetzten, schienen nur für eine temporäre Übergangsphase errichtet und waren so nachlässig zusammengestümpert wie die Plattenbauten auf der anderen Seite. West-Berlin war die unterschätzteste Metropole der Welt, jenseits der attraktiven Touristenrouten. Man konnte mit minimalem Aufwand über die Runden kommen, aber wer ambitioniertere Pläne hatte und Kariere machen wollte, zog besser in eine andere Stadt.
Und nun?
50 Jahre später: Berlin ist nicht mehr so überschaubar, verhätschelt, behütet, isoliert oder limitiert. Die Öffnung des Eisernen Vorhangs, die Fusion mit Ost-Berlin, der kulturelle Austausch zwischen Ost und West, die internationale Öffnung, die Transformation zu einer modernen europäischen Weltstadt haben in den 90er-Jahren noch optimistische bis enthusiastische Erwartungen geweckt, die sich seit den 2000er-Jahren zu düsteren Prognosen verhärtet und die Stimmung verändert haben. Rücksichtslose Investitionen, Mietwucher, Gentrifizierung, steigende Obdachlosigkeit, der Angriffskrieg der Russen, Trump, die ungewisse globale Marktsituation, ein gefährlicher öffentlicher Rechtsruck, verhärtete Dogmen, philologische Haarspaltereien, politisch korrekte Imperative, rassistische Übergriffe, Fake News und Internetterror! Manchmal scheint es, als hätte sich das Lebensgefühl wieder dem nihilistischen Spirit des Existentialismus der 40er- und 50er-Jahre angenähert, ohne sein intellektuelles Angst- und Untergangsniveau zu erreichen. Und mit dem Unterschied, dass damals der Wahnsinn eines Weltkriegs hinter den Menschen und nicht potenziell vor ihnen lag.
Und Berlin?
Um auf Berlin zurückzukommen: Die Stadt ist reicher und ärmer, aufregender und schneller, kosmopolitischer, bunter und härter, unkalkulierbarer und gefährlicher geworden. Ebenso gierig und zynisch wie alle andere Städte. Es hat seine Magie verloren, aber immer noch eine Menge zu bieten. Vorausgesetzt, man kann sich’s noch leisten.
„Als Mecklenburger Junge hatte ich überhaupt kein Bild von West-Berlin, weil es ja auch nicht diese Foto-Flut gab“, hat mir Charly Hübner im vergangenen Jahr gesagt. Wie war das für Sie als jemanden, der aus der badischen Provinz nach West-Berlin kam: Gab es Interesse am Ostteil der Stadt? Hatten Sie da Bilder im Kopf?
Bevor ich nach West-Berlin zog, war ich schon durch halb Europa getrampt und hatte reale Erfahrungen hinter mir und imaginäre Bilder aus Romanen im Kopf, die weit über einen provinziellen Horizont hinausgingen. Außerdem lag Karlsruhe in der amerikanischen Besatzungszone in der Nähe von Frankfurt und Straßburg und war eine frühe Drogenhochburg. Also nicht so provinziell, wie der Name klingt, obwohl ich das in meinem jugendlichen Übermut so empfand. Trotzdem hatte ich von West- oder Ost-Berlin keine Vorstellungen, die nicht mit den alten Stummfilmen, der Nazivergangenheit, dem Aufstand vom 17. Juni, den Studentenrebellionen oder den RAF-Anschlägen zusammenhingen. Ich hatte nicht die sanitären Defizite, grauen, verwahrlosten Fassaden, Außen-Toiletten, die Kohleschlepperei und das umständliche Duschen in öffentlichen Stadtbädern erwartet, weil es in den meisten Bruchbuden, die man sich leisten konnte, keine Badezimmer und kein warmes Wasser gab. Dass es vielleicht im Osten ebenso schlecht oder noch schlimmer aussah, nahm man wahrscheinlich weniger wahr, als umgekehrt die Privilegien der Wessis beneidet wurden.
Sie zeigen die Welt in Schwarz-Weiß – ist die bunte Welt zu langweilig?

Nicht langweilig, einfach nur anders. Ich finde auch die Welt der großen Farbfotografen nicht unbedingt langweilig, die unter der Selfie-Manie und der Internet-Bilderflut eher an Bedeutung gewonnen haben. Farbfotos sind explizierter, auffälliger, vielleicht optimistischer. Schwarzweiß-Fotos sind reduzierter, fokussierter, mystischer und vielleicht fantasieanregender. Kommt auf den Betrachter oder die Betrachterin an. Ich kann eigentlich nur von meiner subjektiven Wahrnehmung und meinen Vorlieben reden.
Was ist in Ihrer Fotografie die Grenze zwischen Dokumentation und Kunst? Gibt es überhaupt eine?
Was ist Kunst? Ich nehme an, eine Frage der Interpretation, gesellschaftlicher Tendenzen und Vorlieben oder subjektiver Wertschätzung. Dokumentation hat man dagegen nie infrage gestellt und immer an ihrem Beweiswert gemessen, was im Zeitalter der KI immer manipulierbarer wird. Der Anspruch, ästhetisch anspruchsvolle Bilder zu fotografieren, könnte leicht dazu führen, dass man die Realität zugunsten einer bestimmten Erwartungshaltung verändert, um kunstkonform zu dokumentieren. Wahre Kunst sucht nach Ausdrucksformen und nicht nach Etiketten und Schablonen. Im Grunde genommen gibt es nur imaginäre Grenzen.
Sie haben viel gesehen und dokumentiert in dieser Stadt – kann Berlin Sie noch überraschen?
Klar. Wer hat schon alles gesehen? Es wird immer was Neues geben. Hängt nur davon ab, ob man neugierig bleibt. Ich bin immer noch für alle Überraschungen offen. Alles ist möglich. Nichts ist auszuschließen. Die Zeiten verändern sich radikal, man muss auf alles gefasst sein.