Gut ein Fünftel der Menschen in Deutschland ist von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Ein Zustand, der sich seit Jahren verfestigt hat. Der Internationale Tag der Armutsbekämpfung (17. Oktober) erinnert daran und gibt Anlass, neue Ansätze im Kampf gegen Armut vorzustellen.
Französische Banlieus sorgen mit unschöner Regelmäßigkeit für Schlagzeilen, die europaweit registriert werden. In den Randzonen der Großstädte hat sich eine Menge sozialer Sprengstoff angesammelt. Bei den großen Unruhen vor knapp zehn Jahren erklärte der damalige Innenminister (und spätere Präsident) Nicolas Sarkozy, er wolle die Vorstädte „mit dem Kärcher vom kriminellen Gesindel befreien“. Frankreich hat sein Problem mit den sozialen Brennpunkt-Vorstadtvierteln seit Jahrzehnten nicht im Griff.
Mitte der 1950er-Jahre entschloss sich der Geistliche und Seelsorger Joseph Wresinski, mit den Obdachlosen und Armen in einem solchen Viertel zu leben und ihnen beizustehen. Seine Arbeit im Notunterkunftslager „Château de France“ in der Pariser Vorortsgemeinde Noisy-le-Grand war eine Initialzündung. Am 17. Oktober 1987 forderten Hunderttausend Menschen bei einer Kundgebung auf dem Trocadero-Platz in Paris einen entschiedenen Einsatz gegen Armut. Fünf Jahre später erklärte die Vollversammlung der vereinten Nationen den 17. Oktober zum Internationalen Tag der Bekämpfung der Armut. Im Jahr darauf machte sich das auch der Europarat zu eigen. Auf einer Tafel am Trocadero-Platz sind die zentralen Sätze von Père Wresinski festgehalten, nämlich, dass „Elend nicht unabänderlich ist“ und: „Wo immer Menschen dazu verurteilt sind, im Elend zu leben, werden die Menschenrechte verletzt.“ Sätze, die wohl auch zum diesjährigen Welttag zitiert werden, soweit dieser Tag überhaupt öffentlich wahrgenommen wird.
Dann wird auch auf das offizielle Ziel der internationalen Gemeinschaft verwiesen, die extreme Armut weltweit bis 2030 beseitigt zu haben. Nach letzten Schätzungen leben über 700 Millionen Menschen in extremer, existenzbedrohender Armut, der größte Teil (circa 60 Prozent) in Afrika südlich der Sahara.
Kein Vergleich zur Lage in Europa. Hier hat Armut andere Dimensionen. In der vergleichsweise wohlhabenden Euro-Zone waren im vergangenen Jahr im Durchschnitt über ein Fünftel (21,4 Prozent, Quelle: Statista) der Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Deutschland liegt mit 21,3 Prozent (2023) knapp unter dem Schnitt, selbst das reiche Luxemburg hat demnach eine Armutsquote im europäischen Durchschnitt von 21,4 Prozent. Die Prozentzahlen werden in ihrer Dramatik deutlich angesichts von rund 20 Millionen Kindern – ein Viertel aller Kinder –, die europaweit in Armutsverhältnissen aufwachsen.
Dass in der Bundesrepublik ein Fünftel der Menschen in armutsgefährdeten Verhältnissen lebt, ist langjähriger Dauerzustand. Regelmäßige Berichte zur Entwicklung zeigen Jahr für Jahr dasselbe Bild und geben Auskunft darüber, welche Gruppen es besonders betrifft.
Alleinerziehende sind besonders betroffen
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2023 waren in Deutschland 17,7 Millionen Menschen von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen, ein leichter Anstieg gegenüber 2022 (17,5 Millionen). Davon mussten 5,7 Millionen Menschen mit „erheblichen materiellen und sozialen Entbehrungen“ leben. Konkret bedeutet das nach Angaben der Statistiker, dass die Betroffenen zum Beispiel nicht in der Lage waren, ihre Rechnungen für Miete, Hypotheken oder Versorgungsleistungen zu bezahlen, eine einwöchige Urlaubsreise zu finanzieren, abgewohnte Möbel zu ersetzen oder einmal im Monat im Freundeskreis oder mit der Familie etwas essen oder trinken zu gehen. Der Schwellenwert für die Berechnung liegt bei 60 Prozent des sogenannten Äquivalenzeinkommens, für eine alleinlebende Person in Deutschland netto (nach Steuern und Sozialabgaben) sind das 1.310 Euro im Monat, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren 2.750 Euro im Monat.
Die Struktur der Armut hat sich in den letzten Jahren ziemlich verfestigt. Hauptsächlich betroffen sind vor allem Alleinerziehende (41 Prozent), Menschen mit Hauptschulabschluss und ohne Berufsabschluss (35 Prozent) und Menschen mit Migrationshintergrund (29 Prozent).
In den Reaktionen auf die letzten zur Verfügung stehenden aktuellen Zahlen ist vielfach darauf verwiesen worden, dass es eine „stabile“ Entwicklung gibt, die Quote also nicht weiter steigt. Der Paritätische Gesamtverband (Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege) spricht dagegen von einem weiterhin „erschreckend hohen Niveau“. Vor allem weist der Verband auf eine differenzierte Entwicklung hin, aus der sich Schlussfolgerungen zur Armutsbekämpfung ergeben würden.
Was nach Ansicht des Paritätischen auffällt, ist eine gegenläufige Entwicklung: Die Kinderarmut ist gesunken, die Altersmut steigt. Dass die Armutsquote von Kindern und von Alleinerziehenden leicht rückläufig ist, führt der Verband darauf zurück, dass politische Maßnahmen der Bundesregierung Wirkung zeigen. Konkret nennt der Verband Erhöhung von Kindergeld und Kinderzuschlag, Verbesserungen beim Wohngeld und beim BAföG und die Heraufsetzung des gesetzlichen Mindestlohnes. Geschäftsführer Ulrich Schneider folgert: „Es zeigt sich, dass Armutsbekämpfung möglich ist. Die Reformen müssen nur wesentlich konsequenter angegangen werden.“ Der Verband fordert beispielsweise eine Erhöhung der Regelsätze beim Bürgergeld und in der Altersgrundsicherung sowie einen armutsfesten Familienlastenausgleich.
Armutsbekämpfung durch finanziell bessere Absicherung ist ein Aspekt. Das andere sind Ansätze zu strukturellen Veränderungen, die dauerhaft zu besseren Lebensbedingungen führen sollen.
Das Saarland geht dabei mit einem Aktionsplan zur Armutsbekämpfung neue Wege. Ein zentraler Punkt dabei ist eine quartierbezogene Armutsbekämpfung, die in drei Modellstadtteilen (Brennpunkte in Saarbrücken, Neunkirchen und Völklingen) realisiert werden soll. Diese quartierbezogene Arbeit soll sich durch eine Reihe von Aspekten besonders auszeichnen.
Zum einen würden „erstmalig alle Ressorts strukturell zusammenarbeiten“, betont Sozialminister Magnus Jung (SPD). Das heißt, dass Sozial-, Arbeits-, Wohnungs-, Bildungs-, Wirtschafts-, Umwelt- und Gesundheitspolitik gemeinsam daran arbeiten, dass aus den bislang durch Armut bekannten Quartieren „Aufsteiger- und Perspektivquartiere“ werden sollen. Der zweite Aspekt: Das Ganze ist kein kurzfristiges Projekt, sondern auf Dauer bis ins Jahr 2032 angelegt. Und der dritte Aspekt: Bürgerinnen und Bürger dieser Stadtteile sollen aktiv die Entwicklung ihres jeweiligen Quartiers mitgestalten. Und weil die knapp zehn Jahre ein relativ langer Prozess sind, sollen Zwischenziele auch so definiert werden, dass schon nach zwei Jahren Fortschritte erkennbar sein können. „Damit alle merken, es lohnt sich, dabei mitzumachen“, unterstreicht der Minister.