Erst ging es unter Bundestrainer Julian Nagelsmann steil bergauf, nun kam wieder ein herber Dämpfer. Wo steht die deutsche Fußball-Nationalmannschaft jetzt eigentlich, ein Jahr vor der WM in Nordamerika?

Die sportliche Ausbeute der deutschen Fußball-Nationalmannschaft war in den vergangenen Jahrzehnten meist spärlich. Zwischen 1972 und 1996 hat die DFB-Elf an 13 Welt- und Europameisterschaften teilgenommen und mit fünf Titeln bei fast der Hälfte davon triumphiert. Im Anschluss seit 1998 gab es 14 Turniere, aber nur noch einen einzigen Titel. Dafür aber gleich viermal ein Ausscheiden in der Vorrunde, was es vorher nur ein einziges Mal gegeben hatte. Und nimmt man die sehr gute Phase zwischen 2006 und 2016 (WM-Dritter, EM-Finale, WM-Dritter, EM-Halbfinale, Weltmeister, EM-Halbfinale) aus, wird es gar ziemlich düster. Die jüngsten vier Turniere waren mit zweimaligem Vorrunden-Aus bei den Weltmeisterschaften und Achtel- und Viertelfinale bei den Europameisterschaften insgesamt recht enttäuschend.
Aktuell weiß man gar nicht so recht, wo man das deutsche Team einordnen soll, ein Jahr vor der WM in den USA, Mexiko und Kanada. Ist es wieder einer der Favoriten, wie bis 1996 und zwischen 2006 und 2016? Oder ist es komplett zum Außenseiter geworden, wenn es darum geht, internationale Titel zu vergeben?

Dieser Zwiespalt resultiert einerseits aus der Historie. Andererseits gibt es im Team selbst aber auch viele Widersprüche. Weil es in der Spitze mit internationalen Stars wie Jamal Musiala, Florian Wirtz, Antonio Rüdiger, Kai Havertz oder Marc-André ter Stegen hervorragend besetzt ist. Dahinter in der Breite aber nicht so stark wie andere führende Nationen, was sich vor allem dann bemerkbar macht, wenn Stammspieler ausfallen und im Spiel die Optionen ausgehen. Grund für den Widerspruch scheint auch zu sein, dass Bundestrainer Julian Nagelsmann bei seinem Amtsantritt im Herbst 2023 frischen Wind reingebracht und das Team möglicherweise ans obere Limit seiner Fähigkeiten gepuscht hat, im Alltag aber nun auch erkennen muss, dass dies vielleicht nicht dauerhaft klappt. Als Sinnbild für die zwei Gesichter dieses Teams stand das Nations-League-Viertelfinale gegen Italien Pate, als die Nagelsmänner auswärts mit 2:1 gewannen und im Rückspiel in Dortmund nach teilweise furioser erster Halbzeit 3:0 führten, ehe sie gegen eine aktuell ebenfalls taumelnde italienische Mannschaft noch mächtig schwammen und das Weiterkommen mit einem 3:3 über die Zeit retteten. Und schließlich könnte dieser Widerspruch auch aus der Aufarbeitung der Heim-EM 2024 resultieren. Denn vordergründig steht da mit dem Scheitern im Viertelfinale wieder eine Enttäuschung. Doch viele sahen eben dieses Viertelfinale als Zeichen dafür, wie nahe man schon wieder dran war. Schließlich hat man gegen den späteren Europameister Spanien erst im Viertelfinale durch ein Tor in der 119. Minute verloren. Und hätte das nach Ansicht vieler nicht getan, wenn das Handspiel des Spaniers Marc Cucurella in der Verlängerung zum Elfmeter geführt hätte. Kapitän Joshua Kimmich erachtete die Niederlage damals als „sehr ungerecht. In der zweiten Halbzeit und der Verlängerung waren wir deutlich besser. Die Spanier wollten sich nur noch ins Elfmeterschießen retten.“ Und Nagelsmann erklärte direkt nach dem Spiel: „Dass man zwei Jahre warten muss, dass man Weltmeister wird, tut weh.“

Niederlagen gegen Topteams
Damit will Nagelsmann sich und allen um ihn herum den Glauben einimpfen, dass der große Coup möglich ist. Vor allem in dem Wissen, dass seine Mannschaft von der rationalen Stärke vielleicht nicht zu den besten fünf Teams gehört und über Mentalität, Wille und eben Glaube kommen muss. Als Deutschland nun bei der ebenfalls im eigenen Land ausgetragenen Endrunde der Nations League nach zwei Niederlagen gegen Portugal (1:2) und Frankreich (0:2) nur Vierter und damit Letzter wurde, wiederholte Nagelsmann trotzig seinen großen Traum. Und begründete dies vor allem mit der zumindest sichtbaren Leistungssteigerung gegen Vize-Weltmeister Frankreich. „Wenn wir so in der Qualifikation spielen, werden wir bei der WM antreten – und dann haben wir große Lust, das Turnier zu gewinnen“, sagte Nagelsmann.

Viele andere sind da nicht so optimistisch. Was zum Beispiel daran lag, dass Frankreich im Spiel um Platz drei mit einem etwas besseren B-Team angetreten war. Und beim deutschen Team eben aufgefallen war, dass die Alternativen rar sind, wenn es viele Ausfälle gibt. Im Juni fielen Rüdiger, Musiala und Havertz aus, dazu Nico Schlotterbeck, Tim Kleindienst, Angelo Stiller, Benjamin Henrichs, Yann Aurel Bisseck, Nadiem Amiri und Jonathan Burkardt.
Was fängt man nun also an mit den Erkenntnissen aus dieser Nations League? Das Medienecho war hart. Der „Kicker“ sah einen „ganz, ganz großen Dämpfer“ und urteilte: „Zur Weltspitze fehlt im Moment und gerade wenn Spieler fehlen, ganz, ganz viel. Und es bedarf viel, viel Fantasie zur Vorstellung, dass diese Mannschaft am Ende Weltmeister werden soll.“ Die „Bild“ titelte „Aufwachen, Fußball-Deutschland“ und mahnte, man müsse nun „Tacheles reden“, denn auch mit der Sieg-Quote von Nagelsmann (52,1 Prozent) „gewinnen wir keinen Blumentopf.“ Die „Frankfurter Rundschau“ stellte fest: „So reicht es hinten und vorne nicht. Reichlich desillusioniert rumpelt sich das DFB-Team ein Jahr vor der WM aus der Nations League.“ Auf Nagelsmanns Aussage, er „spüre etwas Besonderes in dieser Gruppe“, entgegnete die „FR“: „Die heimelige Räucherstäbchenatmosphäre in Herzogenaurach ist das eine, die harten Fakten sind das andere.“
Diskussionen um den Nachwuchs

Zu denen gehöre: „Die Mannschaft kommt trotz der Rücktritte der vier Altmeister Manuel Neuer, Thomas Müller, Toni Kroos und Ilkay Gündogan, zusammen 144 Jahre alt, dennoch im Retrolook daher.“ Soll heißen: Statt junger Talente sind nur die anderen älteren nachgerückt, die vor den Rücktritten der vier noch gar nicht so gefragt waren. Dafür, warum nicht so viel wie gewünscht nachkommt – und das trotz vieler Erfolge der U21 in den vergangenen Jahren –, hat der frühere Bundesliga-Trainer Alexander Nouri in einer Studie sinnvolle Ansatzpunkte gefunden. Man sei als Deutschland gegenüber führenden Nationen in Europa „deutlich abgeschlagen“, sagte er zu transfermarkt.de: „Es war kein deutscher Verein in den Top 10 der besten fünf Nationen plus Portugal, was das Produzieren von Topspielern anbelangt.“ Dies liege unter anderem daran, dass „in Frankreich, Spanien und Portugal viele Vereine zum Beispiel drei Herrenmannschaften haben. Eduardo Camavinga hat in Frankreich in der dritten Mannschaft von Stade Rennes schon mit 15 Erfahrungen im Seniorenbereich gesammelt. Der ist jetzt 22 und hat sieben Jahre Herrenfußball in den Beinen. Das ist natürlich Wahnsinn.“ In deutschen Nachwuchsleistungszentren würde dagegen „oftmals zu früh aussortiert“. Auch Nagelsmann gestand nach der Frankreich-Niederlage ein: „Wir können nicht sofort die Versäumnisse über acht Jahre aufholen.“ Und: „Wir müssen uns beim Thema Breite von der Illusion verabschieden, dass wir das innerhalb eines Jahres geregelt bekommen.“ Spanien habe mit Lamine Yamal und Nico Williams „zwei klassische Außenstürmer. So etwas sehe ich bei uns nicht.“ Doch genau diese Position ist im internationalen Fußball derzeit am gefragtesten, diese Spieler erzielen aktuell die höchsten Transferwerte.

Innerhalb des DFB ordnet man die Dinge wohl durchaus realistisch ein. Nagelsmann ist im Endeffekt natürlich derjenige, der den Optimismus und den Glauben an die Mannschaft, mit der er arbeitet, nach außen tragen muss. „Ich finde maximale Ziele gut. Man muss es nur einordnen. Wir sind weder Top-Favorit noch Favorit Nummer zwei“, sagte Hans-Joachim Watzke in seiner Funktion als DFB-Vizepräsident dem „Kicker“: „Für den Titel müsste schon außergewöhnlich viel passieren. Aber was soll Julian sagen? Das Achtelfinale ist das Ziel? Das wäre doch auch schwierig.“ Und mit Blick auf die Nations League ergänzte er: „Wenn man dann die anderen drei Teilnehmer sieht, auch deren Bänke, bekommt man schon das Gefühl, dass wir in der Breite von der individuellen Qualität noch nicht so gut aufgestellt sind wie Spanien, Frankreich oder Portugal.“ Bei einer WM kommen dann zum Beispiel auch noch Titelverteidiger Argentinien oder Brasilien dazu. Aber, so Watzke, „dann müssen wir eben versuchen, sie mit unseren Waffen zu schlagen“.
Das kann aktuell nur das Ziel sein. Hoffen, dass die außergewöhnlichen Talente wie Musiala oder Wirtz fit und in Form sind. Hoffen auf den ein oder anderen Sprung bei Talenten. Hoffen, dass in Shootingstar Nick Woltemade oder vielleicht Kleindienst im richtigen Moment ein Stürmer die absolute Selbstverständlichkeit vor dem Tor hat. Und dann gelten Form, Selbstvertrauen, Stimmung. Und vielleicht ein guter Spielplan. Doch wenn man Weltmeister werden will, muss man irgendwann einen Großen schlagen. Das hat bei der Nations League nicht geklappt. Und auch bei der EM gegen Spanien nicht. Wenn auch damals mit etwas Pech.