Europa ist unter Druck. Und das nicht erst seit Trump 2.0. Aber Europa ist besser aufgestellt, als es auf den ersten Blick scheint, und braucht sich nicht zu verstecken, meint der Diplomat Hans-Dieter Heumann. Auch in Deutschland seien richtige Weichen gestellt.
Es sind Bilder, die wir vor fast jedem wichtigen EU-Gipfel insbesondere zum Thema Ukraine kennen: Victor Orbán kündigt mal wieder ein Veto Ungarns an. Das Einstimmigkeitsprinzip in vielen Fragen lähmt. Aber es gibt längst eine andere Entwicklung, die einmal unter dem Slogan „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ diskutiert wurde. Jetzt also in Sachen Ukraine-Unterstützung, gemeinsame Verteidigungspolitik und viele anderen Fragen eine neue Entwicklungsstufe?
„Nein“, sagt Hans-Dieter Heumann. „Das ist meiner Ansicht nach eine alte Entwicklung, die wir aber nicht so richtig gesehen haben. Nehmen Sie alle großen Initiativen: den Schuman-Plan, bei dem nicht alle dabei waren, oder den Euro oder Schengen: Das funktioniert also schon längst, die Eurozone ist das beste Beispiel. Und jetzt haben wir die ‚Koalition der Willigen‘ mit Großbritannien, einem Land, das nicht in der EU ist. Das spielt überhaupt keine Rolle. Entscheidend ist: Wir sind handlungsfähig. Und das ist der entscheidende Begriff: Handlungsfähigkeit.“
Hans-Dieter Heumann, Diplomat im Ruhestand und lange Zeit Präsident der Bundesakademie für Sicherheit (2011 bis 2015), Autor unter anderem von „Strategische Diplomatie – Europas Chance in der multipolaren Welt“, hatte bei einer Diskussion bei der ASKO-Europastiftung vor allem diese „Koalition der Willigen“ im Blick als Beispiel dafür, wie Einzelne Initiative ergreifen und daraus eine Sogwirkung entsteht: „Die hat angefangen mit Frankreich und Großbritannien, was man verstehen kann: Zwei Mittelmächte mit einer militärischen Tradition, beide Nuklearstaaten, Mitglieder im UN-Sicherheitsrat. Inzwischen sind gut 30 bei dieser ‚Koalition der Willigen‘ dabei. Da wird man schauen, wer was übernehmen kann: Wer ist an der Ostflanke der Nato, wer kann bei der Luftverteidigung beitragen, und auf anderen Feldern. Und: Die europäische Rüstungsindustrie muss ja nicht aufgebaut werden, sie ist vorhanden, sie ist stark, sie hat nur nicht richtig zusammengearbeitet. Russland hat auf Kriegswirtschaft umgestellt, unsere Rüstungsindustrie ist marktwirtschaftlich organisiert, wir können also nichts anordnen, aber wir können Aufträge vergeben. Die Rüstungsunternehmen produzieren, wenn sie Bestellungen haben. Dann investieren sie auch. Das haben wir alles viel zu spät getan. Inzwischen sehen die Regierungen die strategischen Notwendigkeiten, mit der Rüstungsindustrie zusammenzuarbeiten. Der Schock durch die Abkehr der USA ist so groß, dass ich die Hoffnung habe, dass es diesmal wirklich vorankommen kann.“
Der französische Präsident Emanuel Macron hat einmal die Wahl Trumps sozusagen als Glücksfall bezeichnet, weil dadurch die Europäer gezwungen würden, ihre eigenen Interessen in den Fokus zu nehmen. Der Rückblick zeigt, dass diese wie auch viele andere Mahnungen beispielsweise aus Polen oder den baltischen Staaten nicht in ihrer ganzen Tragweite aufgegriffen wurden.

„Macron hat das bereits 2017 gesagt. Er hat also schon zu Trumps erster Amtszeit die Realität gesehen und also die Rede zur Europäischen Souveränität gehalten. Irgendwann hat auch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einer Wahlkampfveranstaltung gesagt, die Zeiten, in denen man sich auf die engsten Verbündeten immer verlassen konnte, seien vorbei. Aber aus diesem Satz hätte man auch politisch etwas machen müssen. Frankreich war also Vorreiter und Deutschland hätte reagieren müssen, nicht warten bis jetzt, um die Dinge voranzubringen.“
Die Erwartungshaltungen an die neue Bundesregierung sind hoch, aber sind sie auch gerechtfertigt?
„Ich glaube“, betont Heumann, „da sind einige Chancen. Die Schuldenbremse nicht auf Verteidigungsausgaben anzuwenden, ging von Friedrich Merz aus, bevor er Kanzler war. Das zeigt schon auf die nächsten Schritte. Der nächste Schritt wäre ein gemeinsamer europäischer Verteidigungsfonds. Da hören manche vor allem gemeinsame Schulden. Aber es geht um die Handlungsfähigkeit der EU. Da könnte es sein, dass Merz vielleicht schneller vorangeht als andere. Wir haben aber in der letzten Legislaturperiode gesehen, dass es oft die SPD war, die ein entschlosseneres Vorgehen verhindert hat. Da müssen wir sehen, wie sich die SPD jetzt verhält.“
Handlungsfähiges Europa
Und aus Sicht von Heumann kommt noch ein wesentlicher Punkt aus der Koalitionsvereinbarung hinzu: „Deutschland hat zum ersten Mal einen Nationalen Sicherheitsrat. Das heißt, Kanzleramt, Auswärtiges Amt und andere wichtige Ministerien wie Finanzen oder Wirtschaft diskutieren gemeinsam die strategisch wichtigen Fragen und können das dann auch besser koordinieren. Bisher hatten wir immer die Konkurrenz zwischen Auswärtigem Amt und Kanzleramt. Jetzt haben wir zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Situation, dass beide von derselben Partei geführt werden. Dieser Sicherheitsrat könnte sich als gute Idee entpuppen. Andere Länder haben das längst. Wir haben jetzt die Chance, die Merz jetzt auch nutzen muss.“
Heumanns These zur aktuellen Entwicklung: Europa ist wieder zurück im diplomatischen Spiel, Trump ist dabei, mit seinen vollmundigen Ankündigungen zu scheitern, und Putin ist in der Situation, dass er den Krieg in der Ukraine nicht gewinnt. Worauf stützen sich diese Einschätzungen?
„Die militärische Lage in der Ukraine ist ja nicht so, dass Russland kurz vor dem Sieg steht. Im Gegenteil. Russland hat, was die militärische Lage angeht, keines seiner Kriegsziele erreicht. Russland rückt zwar vor, aber sehr langsam, und die Verluste sind sehr groß. Die Kriegswirtschaft ist nicht nachhaltig. Russland führt den Krieg nur weiter, weil es glaubt, dass die Uneinigkeit des Westens dazu führt, dass ihm nichts Ernsthaftes entgegengesetzt wird. Es gibt also keinen Grund, einem Friedensvertrag zuzustimmen, der einer Kapitulation der Ukraine gleichkäme.“
Und Trump?
„Es kann sein, dass er sieht, dass er nicht wirklich weiterkommt, sich von diesem Thema abwendet, sich anderen Themen zuwendet und alles den Europäern vor die Füße schmeißt. Was er in Sachen Sicherheitsgarantien im Grunde schon gemacht hat. Er hat ja gesagt, das ist eine europäische Angelegenheit.“
Und dann wären die Europäer wieder mit im Spiel?
„Die sind ja schon im Spiel, wenn Sie sich die Gespräche im Vatikan ansehen. Die Europäer sind längst wieder dabei, das hat man nur noch nicht öffentlich so gemerkt. Früher war das eine rein russisch-amerikanische Sache, das ist es längst nicht mehr.“
Vielfach ist die Befürchtung eines Diktatfriedens, ausgehandelt von Russland und den USA, diskutiert worden. Erst recht, seitdem die Trump-Administration russische Positionen übernommen hatte. Das scheint sich inzwischen anders entwickelt zu haben. Was also könnte eine zumindest vergleichsweise kurzfristige Perspektive sein? Aus Sicht von Heumann ist jedenfalls ein wirklicher Friedensvertrag nicht in Sicht, eher ein Einfrieren des Konflikts und das Offenlassen territorialer Fragen.