Sebastian Hoeneß hat nicht nur dem VfB Stuttgart in Rekordzeit zu ungeahnter Stärke verholfen. Er liefert auch Bundestrainer Julian Nagelsmann ständig neue Kräfte dazu.
Nein, beim DFB angestellt ist Sebastian Hoeneß tatsächlich nicht. Dennoch ist er aktuell einer der wichtigsten Zuarbeiter für Bundestrainer Julian Nagelsmann. 15 Spielern hat Nagelsmann in seiner rund 14-monatigen Amtszeit zum Debüt verholfen. Gleich sieben davon kamen vom VfB Stuttgart. Und damit direkt aus der Nationalspieler-Schmiede von Sebastian Hoeneß.
Was der Sohn von Dieter und Neffe von Uli Hoeneß in seinen ziemlich genau anderthalb Jahren im Schwabenland bewirkt hat, ist nahezu unglaublich. Als er am 3. April 2023 nach Stuttgart kam, lag der VfB komplett am Boden. Die Schwaben waren acht Spieltage vor Schluss Tabellenletzter, Hoeneß bereits der vierte Trainer in einer Saison. Sein Vorgänger Bruno Labbadia hatte nur einen Sieg aus elf Spielen geholt. Hoeneß begann mit einem 1:0 im Pokal in Nürnberg, legte ein 3:2 in Bochum nach und ein 3:3 gegen Meister-Kandidat Borussia Dortmund, der bis in die 97. Minute geführt hatte. Der Stimmungsumschwung war schon geschafft. Hoeneß führte den VfB in die Relegation, wo die Stuttgarter dem HSV beim 3:1 und 3:0 keine Chance ließen.
Hoeneß hat viele Optionen
Im Sommer 2023 gab es an der Mercedesstraße durchaus Hoffnung auf eine entspanntere Saison. Doch zu hoch waren die Erwartungen auch nicht. Zumal mit Abwehr-Chef Konstantinos Mavopanos, der in der Premier League bei West Ham United seitdem Stammspieler ist, Kapitän Wataru Endo, der zu Jürgen Klopp und dem FC Liverpool wechselte, und dem starken Außenverteidiger Borna Sosa (Ajax Amsterdam) auch noch drei absolute Leistungsträger gingen. Was dann folgte, hätte niemand für möglich gehalten. Weil es das im deutschen Fußball auch noch nie gegeben hatte. Nie zuvor hatte sich ein Verein gegenüber der Vorsaison um 40 Punkte verbessert. In der vergangenen Spielzeit schafften das gleich zwei Vereine: Meister Bayer Leverkusen, der sich von 50 auf 90 Zähler verbesserte. Und eben Stuttgart, das seine Ausbeute von 33 auf 73 Zähler mehr als verdoppelte. Der Fast-Absteiger des Vorjahres wurde vor dem FC Bayern Vizemeister, erreichte die Champions League und holte sogar drei Punkte mehr als in der letzten Meistersaison 2007.
Das alles an sich war ja schon bemerkenswert genug. Doch Hoeneß machte eben nicht nur die Mannschaft besser, sondern auch jeden Einzelnen. Und so spülte es seit Ende 2023 fast monatlich einen neuen VfB-Spieler ins DFB-Aufgebot. Chris Führich war bei Nagelsmanns Debüt in den USA auch gleich der erste Debütant des neuen Bundestrainers. Und blieb dabei. Inzwischen bringt es der offensive Außenspieler auf acht Länderspiele, im letzten 2024 in Ungarn stand er erstmals in der Startelf. Im März beim 2:0 in Frankreich, das als Wendepunkt vor der Heim-EM gilt, gaben dann mit Deniz Undav, Maximilian Mittelstädt und dem inzwischen nach Dortmund gewechselten Waldemar Anton gleich drei weitere VfBler ihr Debüt. Alle drei gehörten wie Führich zum Aufgebot bei der Euro und sind inzwischen feste Größen.
Doch damit waren noch längst nicht alle Stuttgarter oben angekommen. Im September gegen Ungarn kam Angelo Stiller zum ersten Mal zum Einsatz, er gilt zusammen mit Bayerns Aleksandar Pavlović als DFB-Duo der Zukunft im defensiven Mittelfeld. Im Oktober schließlich stand Torhüter Alexander Nübel erstmals im Tor der Nationalmannschaft. Und beim zweiten Einsatz in Ungarn hielt er so gut, dass Nagelsmann noch mal wird überlegen müssen, ob wie geplant wirklich Oliver Baumann die neue Nummer eins wird. Am 14. Oktober gegen die Niederlande legte schließlich der nächste Stuttgarter eine unvergessliche Premiere hin. Jamie Lewelings erster Treffer wurde wegen Abseits aberkannt, also traf er noch mal und schoss so doch das goldene Tor zum 1:0-Sieg. Sicher wäre er im November auch wieder dabei gewesen, wenn er da nicht verletzt gewesen wäre.
Sieben deutsche Spieler hat Hoeneß also in rund einem Jahr zu Nationalspielern geformt. Und alle haben Perspektiven für mehr. „Die Nominierungen sind eine absolute Auszeichnung“, sagte der Coach der „Sport Bild“: „Der Nebeneffekt ist natürlich, dass die Jungs nicht die Möglichkeit haben, durchzuschnaufen. Aber da gibt es überhaupt kein Gejammer oder negative Gedanken.“
Und Nagelsmann hält natürlich viel vom Kollegen. Mittelstädt riet er nach dessen Debüt: „Weitermachen – und auf Sebastian Hoeneß hören.“ Der Linksverteidiger sieht in seinen beiden Trainern in Club und DFB-Team auch eine große Schnittmenge. „Beide sind junge, moderne Trainer, die einen guten Draht zur Mannschaft haben“, sagte er. Die Ähnlichkeit zwischen beiden bestehe „nicht nur im taktischen Bereich, sondern auch im persönlichen Bereich. Beide wollen Fußball spielen, wollen Ballbesitz haben, wollen offensiven Fußball.“ Deshalb klappt die Zuführung dann am Ende auch so gut. Weil Hoeneß den Fußball spielen lässt, den auch Nagelsmann spielen lässt. Und weil er dann auch die Spieler ausbildet, mit denen der Bundestrainer etwas anfangen kann, die genau in sein Anforderungsprofil fallen.
Für Stiller gibt es keine Grenzen
Hoeneß als eine Art Co-Trainer zu bezeichnen, sei aber „ein wenig despektierlich“, sagte Nagelsmann. „Aber er macht sehr viel richtig in Stuttgart. Die Spieler bringen viel Vertrauen mit und kommen gut ausgebildet her. Ich kann das Ding nicht alleine wuppen. Ich will meinen Job nicht schmälern, aber der ganz große Job wird im Verein gemacht. Und das macht Sebastian sehr gut.“
Nagelsmanns Vor-Vorgänger Joachim Löw schwärmt ebenfalls in den höchsten Tönen von Hoeneß, dessen Weg „ich schon ein wenig länger verfolge. Er ist sehr innovativ, sehr kreativ, und er fördert vor allem die spielerischen Lösungen. Das sieht man beim VfB deutlich“, sagte Löw im SWR. Es sei „schon in den ersten vier, fünf Wochen zu sehen gewesen, dass seine Handschrift greift. Diese Mannschaft ist fußballerisch viel, viel besser geworden und hat viel an Kreativität und offensiver Strategie dazugewonnen. Die Spieler können sich viel besser entwickeln. So macht es wirklich Freude.“
Die „Sportschau“ nannte Hoeneß und auch Sportchef Fabian Wohlgemuth „Goldfinger“, da außer Führich alle anderen späteren Nationalspieler im Sommer 2023 geholt wurden. Von Wohlgemuth entdeckt, teilweise gegen einige Zweifler wie im Fall von Mittelstädt oder Leweling, und von Hoeneß geformt. Doch der Trainer gibt das Lob immer an seine Spieler weiter. Leweling zum Beispiel bringe „ein Profil mit, das spannend ist für jeden Trainer. Er hat sich sukzessive weiterentwickelt. Das ist schon sensationell. Für ihn. Für uns alle.“ Für Stiller gebe es „keine Grenzen nach oben“. Mit Vergleichen mit Toni Kroos, die mancherorts schon kamen, würde man ihm wegen Kroos’ Erfolgen „keinen Gefallen tun. Wenn wir aber rein das sportliche Profil betrachten, ist er nicht so weit weg. Angelo hat schon jetzt gezeigt, dass er eine Mannschaft prägen und das Spiel seines Teams diktieren kann. Wenn man sich darauf bezieht, finde ich, dass Vergleiche angebracht sind.“
Doch die Rolle des Trainers bei der Entwicklung dieser Talente ist für alle Beobachter offensichtlich. Und bei derart vielen Fällen ist sie auch selbsterklärend. Und so gibt es auch schon immer wieder Anfragen für Hoeneß, der in seinem bis 2027 laufenden Vertrag eine Ausstiegsklausel im mittleren einstelligen Millionenbereich haben soll. Im Sommer waren wohl der FC Chelsea und Manchester United an ihm interessiert, aber er habe sich schon „wenige Monate zuvor dazu entschlossen, in Stuttgart zu bleiben. Deswegen gab es von meiner Seite kein einziges Gespräch.“ Das habe er nicht bereut.
Doch Hoeneß ist der Wunschkandidat von Meister Leverkusen auf die Nachfolge von Xabi Alonso, falls dieser im nächsten oder spätestens übernächsten Sommer zu Real Madrid geht. Hoeneß geht auf entsprechende Nachfragen nicht ein. Er schwärmt aber von Stuttgart, von der Arbeit mit den Machern Wohlgemuth und Alexander Wehrle, dem Potenzial im Verein, der zuletzt „acht Schritte auf einmal“ gemacht habe. „Aber natürlich geht es für mich auch darum, dass klar sein muss, dass die Voraussetzungen geschaffen werden, dass man den VfB weiterentwickeln kann“, sagte er. Seine Hauptforderung: „In Zukunft wäre es wichtig, unsere eigene Substanz – sprich: die besten Spieler – zu halten und darauf aufzubauen.“ Also vor allem die Spieler, die er nach und nach zu Julian Nagelsmann gebracht hat.
Und die nächsten Talente hat Hoeneß schon im Blick. Die Zweite Mannschaft ist unter Trainer Markus Fiedler überraschend in die 3. Liga aufgestiegen und verfügt über ein großes Reservoir an Talenten. Die „jungen Wilden“ laufen teilweise mit zehn Spielern in der Startelf auf, die 21 und jünger sind. Talente wie Torhüter Dennis Seimen oder Offensivspieler Jarzinho Malanga (beide 18) gelten unter Experten als künftige Nationalspieler. Und Hoeneß fordert sie frühzeitig. „Wir tauschen uns regelmäßig und intensiv über unsere Talente aus, und Sebastian bindet sie immer wieder bei den Profis ein“, berichtet Trainer-Kollege Fiedler.