Das Polit-Beben in Österreich ist auch ein Weckruf für Deutschland
Es wäre ein Novum, und es wäre historisch. Erstmals dürfte Österreich einen Kanzler bekommen, der einer extrem rechten Partei entstammt. FPÖ-Chef Herbert Kickl steht kurz vor dem Ziel. Bundespräsident Alexander Van der Bellen erteilte Kickl den Auftrag zur Regierungsbildung. Obwohl dessen Partei im September mit 28,8 Prozent die meisten Stimmen erhalten hatte, machte der Rest der politischen Klasse einen großen Bogen um sie.
Doch nach dem spektakulären Scheitern der Koalitionsgespräche zwischen der konservativen ÖVP, der sozialdemokratischen SPÖ und den liberalen Neos hat sich die Lage radikal geändert. Die ÖVP, die zuvor ein Bündnis mit der als „Sicherheitsrisiko“ gebrandmarkten FPÖ ausgeschlossen hatte, rollt nun den roten Teppich aus. „Wenn wir zu Gesprächen über eine Regierungsbildung eingeladen werden, dann werden wir dieser Einladung folgen“, sagte der neue ÖVP-Vorsitzende Christian Stocker ungewohnt demütig. Für seine Partei bliebe allerdings nur die Rolle des Juniorpartners in einer Koalition.
Kickl befindet sich nun in einer starken Position. Das liegt zunächst am politischen Versagen der Parteien der Mitte. Deren Regierungsprojekt war am vergangenen Wochenende an unterschiedlichen Vorstellungen darüber geplatzt, wie Österreichs lahmende Wirtschaft angekurbelt und gleichzeitig das Loch im Staatshaushalt gestopft werden soll. Die SPÖ hatte unter anderem verlangt, dass der defizitäre Etat auf den Schultern reicherer Bevölkerungsschichten saniert werden müsse – etwa durch eine Vermögenssteuer. Die ÖVP war strikt gegen zusätzliche Steuern. Der Wirtschaftsflügel der Partei drängte vielmehr auf eine Entlastung der Unternehmen.
Beim Thema Wirtschaft und Steuern gibt es große Schnittmengen mit der FPÖ. Das Gleiche gilt für die Migrationspolitik: Beide Parteien wollen eine härtere Gangart bei der Einwanderung. Kickls Tonlage ist jedoch deutlich schärfer als die der ÖVP. So macht der FPÖ-Mann aus seiner Feindseligkeit gegenüber dem Islam und Migranten kein Geheimnis. Er unterstützt seit 2016 die Identitäre Bewegung, die in Österreich als rechtsextrem eingestuft ist. Er spricht von „Remigration“ und plant, Österreichern nicht-europäischer Herkunft die Staatsbürgerschaft zu entziehen und sie auszuweisen. Das Wahlprogramm der FPÖ trug den Titel „Festung Österreich“.
In der Außen- und Sicherheitspolitik dürfte es allerdings schwierig werden, Gräben zu überbrücken. Die ÖVP hat bislang die Russland-Sanktionen im Zuge des Ukraine-Krieges mitgetragen. Kickl vertritt hingegen russlandfreundliche Positionen. Er lehnt EU-Strafmaßnahmen gegen Moskau ab. „Das ist nicht unmoralisch. Wir müssen bei Russland mit gleichem Maß messen wie bei den USA, die auch vielerorts in Ländern einmarschieren und völkerrechtswidrige Kriege führen“, erklärte er.
Für Europa ist Österreichs Polit-Beben ein Fanal. Wenn die Parteien der Mitte keine überzeugenden Konzepte für Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Sozialsysteme und Migration liefern und umsetzen, befeuern sie den Aufstieg rechts- und linkspopulistischer Kräfte.
Das trifft auch auf Deutschland und den Aufwärtstrend von AfD und BSW zu. Die Konjunktur hierzulande lahmt, Teile der Industrie und des Mittelstandes sind nicht mehr wettbewerbsfähig und bauen Arbeitsplätze ab. Sie ächzen unter zu hohen Energiekosten, einer schleppenden Digitalisierung und bürokratischer Überregulierung.
Die Renten- und die Krankenversicherung in Deutschland sind ohne grundlegende Systemumstellungen nicht mehr finanzierbar. Wie etwa eine Altersvorsorge funktionieren kann, machen die Niederlande und Österreich vor. Alle – Angestellte ebenso wie Beamte, Selbstständige oder Politiker – zahlen in einen Topf ein. Die durchschnittlichen Renten sind deutlich höher als in Deutschland. Die Ampelkoalition ist nicht nur gescheitert, weil die zentrifugalen Kräfte zu groß waren. Sie hat Stückwerkpolitik betrieben, wichtige Reformen verschlafen und die Bürger mit der Energiewende – Stichwort Heizungsgesetz – überfordert und verunsichert.
Dass Anti-System-Parteien für drängende Probleme oft auch keine Lösung haben, spielt für viele Wählerinnen und Wähler zunächst keine Rolle. Hauptsache, Protest gegen die politische Klasse. Die Entwicklungen in Österreich sind ein Weckruf. Er lautet: Aufwachen, Berlin!