Ohne politischen Ausweg wird Israels Militäreinsatz im Gazastreifen scheitern
Wie lange noch? Fast täglich gehen die Fernsehbilder um die Welt: Menschen im Gaza-streifen kauern zwischen den Trümmern kaputtgebombter Städte. Sie schlafen auf Matratzen oder in wackeligen Zelten. Brot und Wasser sind knapp und teuer. Mehr als 27.000 Palästinenser wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza im Zuge der israelischen Angriffe getötet. Fast zwei Millionen der rund 2,2 Millionen Einwohner haben ihre Heimat verloren.
Dass Israel nach den grausamen Terrorattacken der islamistischen Hamas vom 7. Oktober die Drahtzieher des Verbrechens ausschalten und die Netzwerke zerschlagen will, ist nachvollziehbar und legitim. Die Bevölkerung, deren Vorfahren durch die Hölle der Nazi-Barbarei gingen, sollte nie wieder Gräueltaten wie die der Hamas befürchten müssen, lautete die Devise. Aber wie viele zivile Opfer unter den Palästinensern will Israels Premierminister Benjamin Netanjahu noch in Kauf nehmen? Wann wird das von ihm ausgegebene Kriegsziel – die totale Eliminierung der Hamas – wegen der hohen Zahl der Toten am Ende moralisch diskreditiert?
Vier Monate nach dem Tag der Schande sind die Islamisten noch immer nicht besiegt. Sogar im Norden des Gazastreifens, den das israelische Militär angeblich wieder völlig kontrolliert, flammen erneut Guerilla-Angriffe der Hamas auf. Die Terroristen tragen oft keine Uniform, sondern zivile Kleidung und sind nur schwer auszumachen. Ein weitverzweigtes Tunnel- und Schachtsystem bietet ihnen eine Vielzahl an Rückzugsorten.
Trotzdem lässt Netanjahu immer weiter bomben. Für die Palästinenser gibt es keinen sicheren Platz mehr im Gazastreifen. Die internationalen Hilfslieferungen stocken. Immer mehr Krankenhäuser müssen die Versorgung von Patienten einstellen. Die Küstenenklave am Mittelmeer droht zu einem apokalyptischen Ort der Zerstörung zu werden. Israels Regierungschef befeuert einen blindwütigen Krieg, ohne Maß und ohne einen Funken Empathie für die Opfer.
General Frank McKenzie, ehemaliger Chef des US-Zentralkommandos (CENTCOM), zieht eine schonungslose Bilanz des bisherigen Militäreinsatzes. Der Erfolg der Israelis sei „sehr begrenzt“, sagte er dem amerikanischen TV-Sender CBS. „Als sie in den Gazastreifen einmarschierten, haben sie sich zum Ziel gesetzt, die politische und militärische Führung der Hamas zu beseitigen. Bis heute haben sie weder das eine noch das andere erreicht.“ Der israelischen Regierung fehle eine Idee für die Zeit nach dem Krieg. „Wenn man eine Militäroperation beginnt, braucht man eine Vision vom Endzustand. Alles, was man dann tut, vermindert oder vergrößert die Fähigkeit, an diesen Punkt zu gelangen.“
Es ist ein Fiasko, dass es Jerusalem an einer politischen Strategie jenseits des rein militärischen Denkens mangelt. Netanjahu ist Gefangener seiner Fundamental-Kategorien. Sie lauten: totale Auslöschung der Hamas, Endsieg, unbegrenzter Ausbau jüdischer Siedlungen im Westjordanland und möglicherweise künftig auch im Gazastreifen, kein unabhängiger entmilitarisierter Palästinenserstaat.
Es gibt in Israel politische Beobachter, die das Narrativ verbreiten, Netanjahu setze auf einen hemmungslosen Kurs der Eskalation, um seine Haut zu retten. Sie stützen ihre These darauf, dass der Premier sein Amt verlieren werde, wenn der Krieg vorbei sei. Dann beginne die politische Abrechnung über das Versagen der Führung bei der Antizipation des Horrors vom 7. Oktober. Zudem droht Netanjahu vor Gericht die Verurteilung wegen Bestechlichkeit, Betrug und Untreue. Es wäre fatal, wenn der Ministerpräsident Krieg führen würde, weil er seine persönlichen Interessen über das Wohlergehen des Landes stellt.
Die Amerikaner machen Druck auf Israel. Ihre Hebel: die Erlaubnis zu mehr humanitärer Hilfe für die geplagte Bevölkerung im Gazastreifen, eine Feuerpause zur Freilassung der israelischen Geiseln auf der einen und der palästinensischen Gefangenen in Israel auf der anderen Seite, eine Waffenruhe als Brücke für einen Gesprächsprozess auf dem Weg zu einem Palästinenser-Staat. Dieser Plan wird von Katar und Ägypten unterstützt. Möglicherweise lässt sich auch die Öl-Großmacht Saudi-Arabien einbinden. Fest steht bereits heute: Ohne eine politische Perspektive wird Israels Militäraktion im Gazastreifen scheitern.