Der G20-Gipfel zeigt: Die Kräfteverhältnisse auf der Welt verschieben sich
Am Ende des G20-Gipfels in Neu-Delhi vor einer knappen Woche tat Bundeskanzler Scholz (SPD) das, was er exzellent beherrscht: Er präsentierte sich als PR-Akrobat und Verpackungskünstler von Formelkompromissen. Viele schöne Worte, glänzende Schleifchen, wenig Substanz. Als „Gipfel der Entscheidungen“ pries Scholz das Spitzentreffen der westlichen Industriestaaten und größten Schwellenländer.
Die Schönwetter-Version des Kanzlers ist leider nicht durch die Wirklichkeit gedeckt. Im Gegensatz zum G20-Gipfel im November 2022 in Bali wurde der russische Einmarsch in die Ukraine nicht ausdrücklich verurteilt. Der in der Schlusserklärung enthaltene Hinweis auf die „territoriale Integrität“ ist nichtssagend, weil je nach Interpretations-Interesse dehnbar.
Der Westen kann hervorheben, dass damit die Souveränität der Ukraine in den Grenzen von 1991 gemeint ist. Russland kann sich hinter der Behauptung verschanzen, dass die vier annektierten Gebiete in der Ukraine plus die Krim anerkannt werden. China sieht sich bestätigt, dass Taiwan – das in Peking als abtrünnige Provinz verbucht wird – zur Volksrepublik gehört. Die Formel „territoriale Integrität“ kann alles bedeuten, aber nichts verbindlich.
Die Zug- und Schifffahrtsverbindung zwischen Europa, dem Nahen Osten und Indien, die am Rande des G20-Gipfels mit viel Tschingderassabum verkündet wurde, ist in Wahrheit ein Eingeständnis, dass der Westen reichlich spät kommt. Während Amerika und Europa das Projekt als Mega-Fortschritt für den Handel feiern, reiben sich die Chinesen still die Hände. Sie sind seit Jahren in der Region, bauen Straßen, Flug- und Seehäfen, Eisenbahnlinien und machen glänzende Geschäfte. Ihr weltumspannendes Infrastruktur-Vorhaben „Neue Seidenstraße“ trägt Früchte.
Nein, der Westen muss selbstkritisch zur Kenntnis nehmen: Der jüngste G20-Gipfel steht für eine Neuordnung der Welt. Die Kräfteverhältnisse verschieben sich. Der Gastgeber Indien unterstrich nachdrücklich seine Rolle als aufsteigender Stern am internationalen Politik- und Wirtschaftshimmel. Ministerpräsident Narendra Modi reiht sich nicht – zumindest nicht voll – in die Wertegemeinschaft der westlichen Demokratien ein. Er begreift sich als Sprachrohr des „globalen Südens“ und tanzt diplomatisch mit dem Westen und gleichzeitig mit Russland und Afrika.
Dazu passt, dass die Afrikanische Union in die G20-Runde aufgenommen wurde. Die G20 waren ursprünglich eine Plattform von Ländern, deren Volkswirtschaften rasant wachsen und zu Industrieländern werden wollen. Dazu gehören Staaten wie Eritrea, Niger oder Südsudan definitiv nicht. Die Afrikanische Union dürfte sich künftig im G20-Club eher Richtung China (Wirtschaft) oder Russland (Waffen) ausrichten.
Man muss es so deutlich sagen: Die Rolle des Westens, der nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang die internationale Politik und Wirtschaft dominierte, ist gefährdet. Der Anteil von Bevölkerung und Wirtschaftsleistung nimmt im Weltmaßstab stetig ab. Länder wie Brasilien, Nigeria oder Indien legen zu. Hinzu kommt, dass Autokratien auf dem Vormarsch sind.
Das liegt auch daran, dass der Vorbild-Charakter des Westens schwindet. Liberale Demokratien werden von rechtspopulistischen Bewegungen unterspült. Die radikalen Republikaner rund um den Präsidentschaftskandidaten Donald Trump zeigen dies in den USA, der Aufschwung der AfD spiegelt den Trend in Deutschland wider.
Die ökonomische Lage in Deutschland passt leider in dieses Bild. Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) schrumpft in diesem Jahr unter allen großen Industriestaaten nur hierzulande die Wirtschaft. Laut ARD-Deutschlandtrend bezeichnen 73 Prozent der Bürger den Zustand der Wirtschaft als weniger gut oder schlecht. Nur 19 Prozent der Bevölkerung sind mit der Arbeit der Ampelregierung zufrieden.
Dass die Bilanz trotz der milliardenschweren Staatshilfen während Corona-Krise und Ukraine-Krieg so düster ist, zeigt: In diesem Land läuft einiges grundsätzlich schief. Deutschland muss wieder lernen, dass Leistungen erst erwirtschaftet werden müssen, bevor umverteilt werden kann. Nur wer sich dem globalen Wettbewerb stellt und hier besteht, kommt ökonomisch auf den aufsteigenden Ast. Und nur dann sind wir für andere Länder wieder attraktiv.