Trotz Aufrufs zur „Zeitenwende“: Bei der Truppe regiert der Mangel
Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar seine „Zeitenwende“-Rede hielt, ging ein Donnerhall durch Deutschland, der in ganz Europa zu hören war. Drei Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine sagte Scholz den Schlüsselsatz: „Im Kern geht es um die Frage, ob (…) wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus.“ Der Kanzler kündigte ein 100 Milliarden Euro umfassendes Sondervermögen für die Bundeswehr an. „Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt“, fügte er hinzu.
Wehrhaftigkeit, Stärke, Einsatzbereitschaft: Diese Vokabeln hatte man lange nicht gehört. Zuvor war die Bundeswehr oft als Pleiten-Pech-und-Pannen-Verein karikiert worden. „Gewehre, die nicht schießen, Flugzeuge, die nicht fliegen, Schiffe, die nicht in See stechen“ – so oder ähnlich wurde die Truppe häufig verhohnepipelt. Es war die Quittung für einen Kaputtsparkurs, der nach Ende des Kalten Krieges von einer Bundesregierung zur nächsten weitergereicht wurde.
Leider hat sich nach Scholz’ „Zeitenwende“-Weckruf nicht allzu viel bewegt. Zwar hat die Bundesregierung nach anfänglichem Zögern schwere Waffen an die Ukraine geliefert. Darunter waren zuletzt auch ultramoderne Rüstungsgüter wie das brandneue Flugabwehrsystem Iris T-SLM, über das nicht einmal die Bundeswehr verfügt. Osteuropäische Nato-Partner wie Polen sollen zudem Eurofighter und Patriot-Raketen bekommen, wie Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) zugesagt hat.
Genau darin liegt aber das Problem. Die Lage zu Hause ist nämlich ernüchternd: Die Bundeswehr verwaltet über weite Strecken nur noch den Mangel. So fehlt den Soldaten Munition im Wert von 20 Milliarden Euro. Ein Betrag, der im Sondervermögen der Bundeswehr nicht veranschlagt ist, wie die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl (SPD), kritisiert. Die ersten Lieferungen, die Ende des Jahres aus dem Sondervermögen eintreffen, sind Bekleidung, Helme und Nachtsichtgeräte. Puma-Schützenpanzer, neue Hubschrauber oder Drohnenschutz lassen hingegen Jahre auf sich warten, beklagte kürzlich Heeresinspekteur Alfons Mais.
Dieser Leerstand der Bundeswehr ist bedrückend. Generalinspekteur Eberhard Zorn forderte jüngst in einem vertraulichen Papier einen Strategiewechsel der Streitkräfte. Die Bundeswehr müsse sich für einen drohenden Konflikt mit Russland schlagkräftiger aufstellen. „Angriffe auf Deutschland können potenziell ohne Vorwarnung und mit großer, gegebenenfalls sogar existenzieller, Schadenwirkung erfolgen“, lautete Zorns alarmierender Befund. Die Verteidigungsfähigkeit und Einsatzbereitschaft der Bundeswehr seien „überlebenswichtig“ für das ganze Land.
Militärs und Politikexperten warnen schon lange, dass der Krieg in der Ukraine nur die vordergründige Front für den russischen Präsidenten Wladimir Putin ist. Dieser führe eine groß angelegte Kampagne gegen den Westen. Der Kampf umfasse zum einen die Zerstörung der Ukraine als „Vorposten“ des Westens. Zum anderen erstrecke er sich auf die gesamte Palette des „hybriden Krieges“: Cyberattacken gegen politische, wirtschaftliche und militärische Ziele in EU- und Nato-Ländern, Desinformationsaktionen, politische Spaltung. Sollte Putin Schwäche wittern, würde er auch nicht zögern, über die Ukraine hinaus militärisch anzugreifen, mahnen Kremlkenner.
Die Bundeswehr muss den Schalter möglichst schnell umlegen. Sie war jahrelang auf Auslandseinsätze ausgerichtet. Die Afghanistan-Mission endete in einem Fiasko. Es wird höchste Zeit, dass auch der Mali-Auftrag mit mehr als 1.100 Soldaten auf den Prüfstand gestellt wird. Nach der Ukraine-Invasion muss die erste Priorität Landes- und Bündnisverteidigung heißen. Dies hat nichts mit Kriegstreiberei zu tun. Wehrhaftigkeit und Stärke im Nato-Verbund wirken abschreckend auf jeden potenziellen Aggressor.
Bereits im September hatte Verteidigungsministerin Lambrecht angekündigt: Seine Größe und wirtschaftliche Kraft mache Deutschland „zur Führungsmacht, ob wir es wollen oder nicht – auch im Militärischen“. Eine Rhetorik der Stärke, die sich bisher weitgehend in Ankündigungspolitik erschöpft hat. In der Praxis ist dieser Anspruch noch nicht angekommen.