Die neue Bundesregierung muss die Bürger mit konkreten Lösungen überzeugen
Die Deutschen gelten als Volk der notorischen Schwarzmaler. In Zeiten wie diesen stehen die Vokabeln „Endzeitstimmung“, „Deindustrialisierung“ und „Unsicherheit“ hoch im Kurs. Die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen, der Atomstreit mit dem Iran, der die große Zollkeule schwingende US-Präsident Donald Trump und eine seit mehr als zwei Jahren lahmende Wirtschaft in Deutschland zerren an den Nerven vieler Bürger.
Dennoch hat die neue Bundesregierung eine Chance verdient. Ja, man sollte den Politikerinnen und Politikern immer auf die Finger schauen. Aber angesichts der gewaltigen innen- und außenpolitischen Probleme müssen wir der schwarz-roten Koalition einen Vertrauensvorschuss gewähren. Wer immer nur meckert und das Land schlechtredet, katapultiert sich selbst in eine Abwärtsspirale. Der Niedergang wird zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Aber damit wird nichts gelöst.
Dennoch ist auch klar: Das Kabinett von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) steht von Tag eins an unter einem enormen Handlungsdruck. Es muss einen Aufbruch signalisieren. Nur so lässt sich das weit verbreitete Gefühl der Stagnation drehen. Die Wirtschaft muss wieder auf Trab kommen. Das heißt: Die Energiepreise, die in Europa mit am höchsten sind, müssen runter. Der Bürokratie-Dschungel sollte radikal abgeholzt werden. Das Lieferkettengesetz, das Unternehmen gigantische Berichtspflichten über die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards in fernen Ländern auferlegte, war ein Bremser des Aufschwungs. Da ist deutsche Gründlichkeit am falschen Platz. Weg damit! Bei der Digitalisierung muss endlich der Turbo eingelegt werden.
Der Kanzler steht vor der Herausforderung, das Ruder herumzureißen. Das unrühmliche Ende der Ampelkoalition hat einen Mehltau der Lethargie über dem Land ausgebreitet. Merz sollte möglichst bald eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede halten. Botschaft: „Die Lage ist ernst, die weltweite Konkurrenz für deutsche Firmen hart wie nie. Aber Deutschland hat immer noch eine starke industrielle Substanz. Wer die Ärmel hochkrempelt und Leistung bringt, wird belohnt und nicht durch immer neue Steuern bestraft. Mit Innovation und Arbeitseinsatz können wir wieder durchstarten.“ Der 500 Milliarden schwere Fonds für Ausbau und Erneuerung der Infrastruktur bietet große Chancen. Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) hat die Aufgabe, mit gezielten Investitionen die Wirtschaft anzukurbeln. Bei der breiten Verteilung mit der Gießkanne würde das Geld versickern, ohne für Wachstumsimpulse zu sorgen.
Nicht zuletzt muss die neue Bundesregierung Reformen anpacken, die über viele Jahre hinweg verschleppt wurden: Die Kranken- und Pflegeversicherung sowie die Rentenversicherung stehen vor dem Finanzkollaps, wenn nicht die Reißleine gezogen wird. Die Überalterung der Gesellschaft hat sich bereits vor Jahrzehnten abgezeichnet, doch es wurde nicht gegengesteuert. Kamen in den 50er- und 60er- Jahren noch sechs Arbeitnehmer für einen Rentner auf, lautet heute das Verhältnis zwei zu eins. Ein Weiter-so wäre fatal: Entweder würden die Beiträge in Zukunft kräftig steigen oder die Leistungen drastisch sinken. Beides ist langfristig nicht tragfähig. Bereits heute fließen rund 25 Prozent des Bundeshaushalts in die Rentenversicherung. Mehr kann sich der Staat kaum leisten. Union und SPD haben im Koalitionsvertrag vereinbart, für die Neufassung der Sozialversicherung Kommissionen einzuberufen. Es wäre jedoch falsch, diese heiklen Themen auf die lange Bank zu schieben.
Modelle für einen Systemwechsel liegen auf dem Tisch. Ein Blick in Nachbarstaaten wie die Niederlande oder Österreich zeigt dies. Dort zahlen alle – Angestellte, Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Rentner oder Politiker – in einen Topf ein. Die Altersbezüge sind höher als in Deutschland. Auch ein zusätzlicher Aktienfonds zur Finanzierung des Ruhestandes wie in Schweden wäre denkbar.
Die Merz-Regierung muss schnell in die Gänge kommen und die Bürger mit konkreten Lösungen überzeugen. Nur dann wird es ihr gelingen, der auf der Protestwelle reitenden AfD das Wasser abzugraben. Es ist die letzte Gelegenheit. Sie wird sich sehr wahrscheinlich nach der nächsten Bundestagswahl nicht noch einmal ergeben. Für die politische Mitte in Deutschland steht viel auf dem Spiel.