Verliert die SPD in Brandenburg, wird es für den Kanzler gefährlich
Die Selbstwahrnehmung des Bundeskanzlers ist surreal. Oder Olaf Scholz folgt einer verborgenen Logik, die sich dem Rest der Welt nicht erschließt. Je schlechter die Wahlergebnisse für seine SPD und je desaströser die Umfragewerte, desto siegesgewisser gibt sich der Kanzler. Er rechne „fest damit, dass die SPD und ich 2025 ein so starkes Mandat bekommen, dass wir auch die nächste Regierung anführen werden“, sagte Scholz dem „Tagesspiegel“.
Der Kanzler, so scheint es, lebt in einer Wunderwelt. Denn seinem rosaroten Prinzip Hoffnung steht die düstere Realität gegenüber. Bei den Europawahlen im Juni fuhren die Sozialdemokraten mit 13,9 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis auf nationaler Ebene ein. Doch schlimmer geht immer: Bei den Landtagswahlen vor knapp zwei Wochen sackte die SPD in Thüringen auf 6,1 und in Sachsen auf 7,3 Prozent ab.
Dies ist nicht nur ein ostdeutsches Phänomen. Auch im gesamten Land bekommt Scholz miserable Zensuren. Nach dem aktuellen ARD-Deutschlandtrend sind nur 18 Prozent der Bundesbürger mit dem Kanzler zufrieden. 77 Prozent halten ihn für führungsschwach.
Natürlich schlagen hier gravierende handwerkliche Mängel zu Buche. Das schlecht vorbereitete Heizungsgesetz, das plötzliche Aus für die E-Auto-Kaufprämie, das Gezerre um die Kindergrundsicherung: Die Liste der Pleiten und Pannen ist lang.
Doch all dies wird überlagert von Scholz’ Kommunikationsschwäche. Ja, wir leben in Zeiten multipler Krisen: Corona-Pandemie, Lieferketten-Chaos und Ukraine-Krieg machen Regieren zu einer Herkulesaufgabe. Aber gerade in einer solchen Konstellation ist der Austausch mit dem Publikum unverzichtbar.
Der Kanzler wirkt jedoch in der Öffentlichkeit seltsam abgehoben und emotionslos. Er vermittelt keine Empathie. Politiker vom Kaliber der US-Präsidenten Bill Clinton oder Barack Obama hätten nach einer brutalen Messerattacke wie in Solingen sehr zeitnah eine Rede zur Lage der Nation gehalten, um Trost zu spenden und Konsequenzen anzukündigen. Es war sofort klar, dass Solingen einen Kipppunkt markiert.
Scholz erklärte hingegen drei Tage nach dem Anschlag, dass er „wütend und zornig“ sei und eine Verschärfung des Waffenrechts wolle. Doch die Worte klangen seelenlos. Sie waren ein später Nachhall des „Scholzomaten“, wie der damalige SPD-Generalsekretär Anfang der Nullerjahre wegen seines monotonen Redestils genannt wurde. „Ich habe bei Scholz immer den Eindruck, der ist rhetorisch im Stand-by-Modus“, betont Dietmar Till von der Universität Tübingen.
Keine Frage: Der Kanzler glaubt an ein Wunder, das Wunder der Bundestagswahl vom 26. September 2021. Damals gewann die SPD mit ihrem Kandidaten Scholz sensationell und lag am Ende 1,5 Prozentpunkte vor der CDU/CSU. Ein Jahr zuvor waren die Sozialdemokraten noch an der 15-Prozent-Marke eingemauert, ähnlich wie heute. Doch im Juli 2021, nach dem Lacher des Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet während einer Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Flutgebiet des Ahrtals, drehte sich die Stimmung.
Plötzlich war der unaufgeregte Scholz der Mann der Stunde. Nach 16 Jahren mit Kanzlerin Angela Merkel sahen viele Bundesbürger in ihm einen Garanten der Kontinuität. Das ist heute anders: Ein „Weiter so“ wie in den letzten drei Jahren will kaum einer.
Noch hält sich die parteiinterne Kritik an Scholz in Grenzen. Gleichwohl sicherte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich dem Kanzler vorsichtshalber „absoluten Rückhalt“ zu. Die Landtagswahl in Brandenburg in gut einer Woche könnte jedoch eine neue Dynamik in Gang setzen. Wird die SPD von der AfD überflügelt – die Rechtspopulisten liegen derzeit in den Umfragen vier Prozentpunkte vorn –, ist Scholz’ Kanzlerkandidatur gefährdet.
Dann dürfte sich bei den Sozialdemokraten die Pistorius-Frage stellen. Der Verteidigungsminister hat gegenüber Scholz einen entscheidenden Vorteil: Er redet so, dass ihn jeder versteht. Er kann auch komplexe Sachverhalte schlüssig erklären. Kurze Sätze, klare Botschaft. Boris Pistorius demonstriert politische Führung. Er hat angesichts von Russlands Aggression in der Ukraine gefordert, dass Deutschland „kriegstüchtig“ werden müsse. Der Begriff geht vielen Deutschen zu weit. Trotzdem sind 53 Prozent mit seiner Arbeit zufrieden. Von diesen Werten kann Scholz nur träumen.