Die Ukraine hat das Recht auf Selbstverteidigung – aber zivile Ziele sind tabu
Der Ukraine-Krieg weitet sich aus. Er geht in die nächste, gefährliche Phase. Fast täglich gerät die westrussische Region Belgorod unter Beschuss, die an die Ukraine grenzt. Dabei schlagen nicht nur Artilleriegeschosse auf russischem Territorium ein. Auch Soldaten und Panzer greifen an.
Im Nebel des Krieges ist die Lage undurchsichtig. Offenbar steckt hinter den Attacken nicht direkt die ukrainische Armee. Es soll sich um Privatmilizen wie „Russisches Freiwilligenkorps“ und „Legion Freiheit Russlands“ handeln. Die Verbände bezeichnen sich als kremlfeindliche Gruppierungen, die den Sturz von Präsident Wladimir Putin zum Ziel haben.
Es sind nationalistische, zum Teil rechtsextreme Russen. Beide kämpfen in der Ukraine mit ukrainischen Truppen gegen die Russen. Neuerdings will auch das „Polnische Freiwilligenkorps“, eine Spezialeinheit, bei den Gefechten in Belgorod beteiligt sein. Das berichten polnische Medien.
Dass es hier nicht nur um kleine Sabotage-Aktionen geht, beweist die scharfe Kritik des Chefs der russischen Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin. Die Kriegsführung des Verteidigungsministeriums in Moskau sei „chaotisch“, polterte der 62-Jährige. „Es läuft dort schon eine Eroberung des Gebiets“, sagte er mit Blick auf das Artilleriefeuer in der Region Belgorod.
Das russische Verteidigungsministerium veröffentlicht Bilder von brennenden Wohnhäusern und berichtet von Getöteten. Das mag Teil der Moskauer Propaganda sein, um die Ukraine als „Terrorstaat“ zu diskreditieren – im Krieg ist bekanntlich das erste Opfer die Wahrheit.
Doch die Regierung in Kiew muss aufpassen. Angriffe auf Zivilisten und zivile Gebäude wie Schulen oder Krankenhäuser sind tabu. Könnte man der Ukraine das nachweisen, würde die moralische Glaubwürdigkeit im Verteidigungskampf gegen den Aggressor Russland beschädigt – das größte Kapital der Ukrainer. Es würde die noch immer breite Unterstützung in den westlichen Gesellschaften für das attackierte Land untergraben.
Die Ukraine befindet sich in einem Dilemma. Die Angriffe auf russisches Territorium sind ein strategisches Ablenkungsmanöver. Sie sollen dazu führen, dass russische Truppen aus der Ukraine abgezogen und im Kernland stationiert werden. Das heißt, die russische Kampfkraft in der Ukraine wird geschwächt. Zweitens sollen die russischen Nachschublinien unterbrochen werden. Diesem Ziel dienen Drohnen- und Raketenattacken auf Treibstofflager oder Munitionsdepots in Westrussland.
All dies hat zum Zweck, die erwartete Gegenoffensive der Ukraine vorzubereiten. Es ist zwar gerechtfertigt, wenn die Ukraine militärische Infrastruktur in Russland zerstört, um Angriffe auf das eigene Land zu verhindern. Aber es gibt zwei rote Linien, die Kiew nicht überschreiten darf.
Erstens: Zivile Ziele in Russland sind sakrosankt. Aus westlicher Sicht ist der Ukraine-Krieg auch eine Schlacht zwischen Freiheit und imperialistischer Hyper-Autokratie, personalisiert durch die Galionsfigur Wolodymyr Selenskyj und den Protagonisten Wladimir Putin. Daraus speist sich die Legitimität des ukrainischen Kampfes. Zweitens: Westliche Waffen dürfen von der Ukraine für die Verteidigung des eigenen Territoriums eingesetzt werden, aber nicht für Attacken auf russisches Gebiet.
Das hat US-Präsident Joe Biden ebenso deutlich gemacht wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Beide haben die Befürchtung, dass Angriffe auf russisches Gebiet mit westlichen Waffen die Gefahr einer Eskalation in sich bergen – nämlich einer militärischen Konfrontation zwischen Russland und der Nato. Deshalb sind die Amerikaner zurückhaltend bei der Lieferung von Kurzstreckenraketen des Typs ATACMS, die eine Reichweite von rund 300 Kilometern haben. Das Gleiche gilt für Deutschlands Reserviertheit mit Blick auf die Verschickung von Marschflugkörpern des Typs Taurus, die mehr als 500 Kilometer weit fliegen können.
Die militärische Unterstützung der Ukraine durch den Westen sollte eine klare Linie haben: Das angegriffene Land muss alles bekommen, was ihm die Rückeroberung der besetzten und annektierten Territorien ermöglicht. Aber selbst dieser Kurs ist in der neuen Phase des Krieges nicht ohne Risiko. Es liegt auch an der ukrainischen Regierung, dass es so gering wie möglich gehalten wird.