Die US-Präsidentschaftskandidatin liegt beim Thema Wirtschaft hinter Trump
Nach dem Rücktritt von Joe Biden aus dem Rennen um die US-Präsidentschaft waren viele Medien wochenlang im Schwärm-Modus. Die schnell gekürte demokratische Kandidatin Kamala Harris löste in der lethargisch gewordenen Biden-Anhängerschaft eine Welle der Euphorie aus. Die 59-Jährige sei wie ein Wirbelwind frischer Energie gegen den 78-jährigen Konkurrenten Donald Trump, hieß es. Fast schien es, als habe Harris die Wahl schon gewonnen.
Vor dieser irrigen Erwartung kann nur gewarnt werden. Zwar legte Harris in den Meinungsumfragen zunächst deutlich zu. In den heiß umkämpften Swing States, in denen die Wahl praktisch entschieden wird, lag sie plötzlich knapp vor Trump. Der Republikaner hatte zuvor einen konstanten Vorsprung vor Biden und sah sich bereits als der sichere Sieger.
Erstaunlich aber, dass sich Harris nicht mehr absetzen konnte. Dabei hatte sie zu Beginn taktische Vorteile. Beim TV-Duell gegen Trump am 10. September kaufte sie dem Polterer vom Dienst den Schneid ab. Mal schlagfertig, mal süffisant ließ sie dessen Attacken ins Leere laufen. Hinzu kam, dass Trump mit Propaganda-Lügen Wähler in der Mitte verschreckte. Seine Fake-News-Behauptung, dass Migranten aus Haiti Haustiere wie Katzen und Hunde stehlen und schlachten, sorgte für Bombendrohungen.
Aber derlei Ausfälle scheinen Trump nicht nennenswert zu schaden. Der Polit-Berserker kann wüten, wie er will: Harris profitiert nicht wirklich davon. Laut Umfragen der amerikanischen Nachrichten-Website realclearpolitics von Anfang dieser Woche kommt sie in den Swing States Pennsylvania, Michigan, Wisconsin und Nevada über ein hauchdünnes Plus von 0,1 und 1,2 Prozent nicht hinaus. Trump liegt in Georgia und Arizona zwischen 0,3 und 1,3 Prozent vorn. Alles im Bereich der Fehlerspanne.
Der Versuch eines erneuten Attentats auf Trump am Sonntag dürfte die Chancen des Republikaners eher verbessern. Die fehlgeschlagene Tötungsaktion bestärkt ihn in seiner Märtyrerrolle. Trumps Wahlkampf-Maschinerie deutete dies sofort so um, dass jede Kritik an dem Ex-Präsidenten potenzielle politische Gewalttäter anstachelt. Damit werden Harris und die Demokraten, die sich gegen Trump positionieren, in Mithaftung genommen.
Die Polarisierung, der Hass und die Gewaltbereitschaft in den sozialen Medien erlebten einen neuen Höhepunkt. Der egomanische Trump-Unterstützer Elon Musk reagierte mit einem provokanten Beitrag auf das vereitelte Attentat – löschte den Post aber kurze Zeit später wieder. Auf seiner Onlineplattform X schrieb er: „Und es versucht noch nicht mal jemand, Biden/Kamala zu ermorden.“ Hinter die Worte setzte er ein Emoticon mit einem nachdenklichen Gesicht.
Was Harris aber viel mehr Sorgen bereiten muss: Beim Thema Wirtschaft, das für viele Wähler Top-Priorität hat, liegt sie hinten. Nach einer Umfrage von „New York Times“ und Siena College räumen 55 Prozent der wahrscheinlichen Wähler Trump mehr Wirtschaftskompetenz ein als Harris. Die Demokratin kommt nur auf 42 Prozent. Vermutlich hat dies auch mit nostalgischen Erinnerungen an den Aufschwung der Vor-Corona-Jahre zu tun, als Trump Präsident war.
Harris hat zwar einen bunten Strauß von Maßnahmen angekündigt – etwa Steuervorteile für junge Eltern, Finanzspritzen für erstmalige Haus- oder Wohnungskäufer oder die Bekämpfung von „Preistreiberei“ von Lebensmittelketten. „Das sind Ideen, die zu sehr nach Gesetzesvorlagen klingen oder nach Vorschlägen, die vom Kongress verwässert werden können“, betont Evan Roth Smith, Meinungsforscher bei Blueprint, einem Umfrage-Institut der Demokraten. Ein Vorstoß wie breite Steuererleichterungen für die Mittelklasse würde die Wähler viel mehr beeindrucken, so Smith.
Für Bret Stephens, Kommentator bei der „New York Times“, ist die US-Präsidentschaftswahl eine extrem heikle Angelegenheit. „Ein Sieg von Harris bringt eine unerprobte Führerin ins Weiße Haus – in einem Moment echter Bedrohung durch ehrgeizige Autokraten in Moskau, Peking, Pjöngjang und Teheran“, warnt der Journalist. „Ein Trump-Sieg bedeutet, dass das Land wieder verrückt wird – mit all den kulturellen Wutausbrüchen, die er auslöst, sowohl für als auch gegen ihn.“ So wie Stephens geht es vermutlich vielen Amerikanern. Fest steht: Harris muss noch jede Menge Überzeugungsarbeit leisten.