Israels Premier Netanjahu setzt im Gaza-Krieg auf ethnische Säuberung
Fast jeden Tag gibt es bedrückende Beispiele für den barbarischen Krieg im Gazastreifen. Doch was am Freitag vergangener Woche in der Stadt Chan Junis im Süden der Küstenenklave passierte, ist besonders verstörend und zeigt die völlig entmenschlichte Militärlogik von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Während eine palästinensische Kinderärztin im Nasser-Krankenhaus arbeitete, wurden neun ihrer Kinder bei einem israelischen Luftangriff in ihrem Wohnhaus getötet.
Die israelische Armee schaltete kurz danach wie immer den Rechtfertigungsturbo ein. Man habe bei der Attacke „mehrere Verdächtige getroffen“, hieß es in einer dürren Mitteilung. Den Vorwürfen, dass bei dem Angriff „unbeteiligte Zivilisten“ getötet worden seien, werde nachgegangen. Die Untersuchung dürfte ebenso wenig ergeben wie die Prüfung nach ähnlichen Vorfällen in der Vergangenheit.
Dahinter steckt eine fundamentalistische Begründungskaskade, die keinen Widerspruch duldet. Axiom eins: Die Vernichtung der radikalislamischen Terrororganisation Hamas rechtfertigt alles. Axiom zwei: Kommen dabei auch in großer Zahl Zivilisten um, sind dies Kollateralschäden. Axiom drei: Netanjahu hat immer recht.
Wohlgemerkt: Dass Israel nach dem bestialischen Massaker vom 7. Oktober 2023 die Hamas ausschalten will, ist nachvollziehbar. Die Hamas ist eine Terrorbande, die voll auf eine regionale Eskalation unter Einbeziehung des Irans gesetzt hatte. Sie hätte die Lage durch eine Freilassung der israelischen Geiseln entschärfen können. Stattdessen nahm sie das grenzenlose Leid der eigenen Zivilbevölkerung billigend in Kauf. So handeln nicht Freiheitskämpfer, sondern Polit-Kriminelle.
Doch das grausame Vorgehen der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen ist keine legitime Antwort. Es steht in einem größeren Zusammenhang, der den Feldzug moralisch völlig diskreditiert. Israels Regierung hat sich von ethischen Fragen wie der Verhältnismäßigkeit von Gewalt, dem Schutz der Zivilbevölkerung oder der Versorgung von Menschen in besetzten Gebieten – zentralen Forderungen des humanitären Völkerrechts – abgekoppelt.
Davon zeugen nicht nur die mehr als 53.000 Toten, von denen die große Mehrzahl Zivilisten waren. Netanjahu verfolgt vielmehr einen brutalen politischen Plan. Die Einwohner des Küstenareals werden von Ort zu Ort gejagt, sie leben zusammengepfercht in Zelten, sind permanent unterwegs. Die Bevölkerung soll mit einer Strategie der Verelendung gezwungen werden, in arabische Nachbarländer wie Ägypten oder Jordanien zu fliehen.
Mehr als zwei Monate lang hatte die israelische Regierung die Lieferung von Nahrungsmitteln und Medikamenten in den Gazastreifen gekappt, um den Leidensdruck auf die Palästinenser zu erhöhen. Internationale Hilfsorganisationen warnten: Tausende Menschen seien dramatisch unterernährt. Man muss es so deutlich sagen: Israels Premier setzt Hunger als Waffe ein, um die Palästinenser aus dem Gazastreifen zu vertreiben. Die von seinen rechtsextremen Koalitionspartnern unterstützte Siedlerbewegung will das Land als jüdisches Territorium neu bevölkern.
Netanjahu bügelt jedwede Missbilligung seines Kurses als „Antisemitismus“ ab. Aber Kritik an Netanjahu hat so wenig mit Antisemitismus zu tun wie Kritik an Wladimir Putin mit Russlandfeindlichkeit oder Kritik an Donald Trump mit Anti-Amerikanismus. Israels Ex-Verteidigungsminister Moshe Yaalon nennt Netanjahus Irrweg beim Namen: „Die Straße, die wir entlanggeführt werden, ist Eroberung, Annexion und ethnische Säuberung.“
Seit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gilt das Diktum, dass Israels Sicherheit „deutsche Staatsräson“ sei. Dieser Satz ist insofern richtig, als Deutschland nach den Nazi-Verbrechen aus historischer Verantwortung für die Sicherheit Israels und der Juden weltweit einsteht. Der Satz ist aber kein Blankoscheck für Netanjahus Vertreibungspolitik. Felix Klein (CDU), der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, bringt es auf den Punkt: „Die Palästinenser auszuhungern und die humanitäre Lage vorsätzlich dramatisch zu verschlimmern, hat nichts mit der Sicherung des Existenzrechts Israels zu tun. Und es kann auch nicht deutsche Staatsräson sein.“ Eine derart klare Sprache würde man sich auch von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) wünschen.