Die Rechtspopulistin hat ihre Partei programmatisch Richtung Mitte getrimmt
Die Europawahlen haben in Paris ein Erdbeben ausgelöst. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat die Nationalversammlung aufgelöst und Neuwahlen angesetzt. Ein Spiel mit hohem Risiko: Der rechtspopulistische Rassemblement National (RN) rund um die Partei-Ikone Marine Le Pen könnte zur stärksten Kraft werden und für Macron das Regieren noch schwerer machen. Bei den Europawahlen hat der RN kräftig zugelegt und 31,4 Prozent der Stimmen geholt, mehr als doppelt so viele wie das Wahlbündnis des Präsidenten. Eine schallende Ohrfeige für Macron, den Super-Europäer.
Le Pens Wahlerfolg kommt nicht von ungefähr. In den vergangenen zehn Jahren hat sie dem RN seine rechtsextremen Kanten abgeschliffen und ihn programmatisch Richtung Mitte bewegt. Dahinter steckt eine strategische Grundsatzentscheidung. Le Pen will den RN aus der Schmuddelecke einer Anti-System-Partei herausholen und durch einen Wohlfühl-Konservatismus auch für Wähler im bürgerlichen Spektrum attraktiv machen.
Spektakulärstes neuestes Beispiel für diesen Kurs-Schwenk ist der Rausschmiss der AfD aus der Fraktion Identität und Gerechtigkeit (ID) im Europaparlament, der neben dem RN auch die österreichische FPÖ oder die italienische Lega angehören. Le Pen war eine der treibenden Kräfte für diesen Schritt.
Das Momentum aus dem Sieg bei der Europawahl will Le Pen nutzen. Erst bei den Ende Juni/Anfang Juli anstehenden Neuwahlen für das Parlament und 2027 bei der Präsidentschaftswahl. Der Sprung in den Elysée-Palast soll der krönende Abschluss eines politischen Marathonlaufes werden. Dreimal trat die 55-Jährige für das höchste Amt im Staat an, dreimal scheiterte sie – aber zuletzt wurden die Abstände zu Macron immer geringer. Jetzt baut Le Pen auf die weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Politik des Präsidenten, der nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten kann.
Das Generalziel der gelernten Juristin ist die Entteufelung („dédiabolisation“) des RN. Bei den Europawahlen 2014 ging die Partei noch mit Hardcore-Parolen wie „Die Europäische Union zerstört, die Nation beschützt“ ins Rennen. Heute heißt es „Frankreich kommt wieder, Europa lebt wieder auf“. Die ursprüngliche Forderung eines Austritts aus der EU, der „Frexit“, wurde ebenso gekippt wie die der Wiedereinführung des Franc.
Dahinter steckt vor allem wahltaktisches Kalkül. Die große Mehrheit der Franzosen hält an der Mitgliedschaft ihres Landes in der EU und am Euro fest. Der RN versucht, sich an die gesellschaftliche Realität anzupassen. Die Konturen bleiben freilich unscharf. Die von der Gemeinschaft ursprünglich angestrebte vertiefte Integration will Le Pen durch ein System der „Kooperation“ der Mitgliedstaaten ersetzen. Ziel ist die „Neufassung“ der EU-Verträge mit einem Minimaleuropa.
Auch beim Thema Grenzen hat Le Pen eine Korrektur vorgenommen. Vor zehn Jahren wollte der RN noch aus dem Schengen-Abkommen zur Abschaffung der Kontrollen an den EU-Binnengrenzen aussteigen. Jetzt verlangt die Partei eine nicht näher definierte „doppelte Grenze“, um den Schutz der nationalen und der europäischen Grenzen zusammenzuführen.
Das Verhältnis zu Moskau erfährt ebenfalls eine Generalüberholung. 2011 schwärmte Le Pen noch von einer „hochentwickelten strategischen Allianz“ mit Moskau. Nach der Invasion in der Ukraine buchstabiert das RN-Programm zum ersten Mal aus, dass „Russland gegen das Völkerrecht verstößt“. Doch bei den Abstimmungen im Europaparlament votierten die RN-Abgeordneten gegen die EU-Sanktionen und für die Beibehaltung der Gasimporte aus Russland. Le Pens Haltung bleibt nebulös. Es gilt die Devise: Keine Wähler in der Mitte verprellen.
Le Pen verordnete ihrer Partei nicht nur eine strategische Neubestimmung, sondern auch ein bürgerlicheres Image. Die 88 Abgeordneten in der Nationalversammlung wurden dazu verdonnert, täglich Anzug und Krawatte oder Kostüm zu tragen. Die Botschaft: Wenn der RN und seine Galionsfigur die Macht übernehmen, bricht im Land kein Chaos aus.
Die große Frage bleibt jedoch, wie viel Substanz hinter den programmatischen Weichmachern steckt. Kritiker werfen Le Pen vor, dass es ihr vor allem um wahltaktische Image-Kosmetik gehe. Ihr Europa à la carte sei in Wahrheit ein Programm der Zerstörung der EU in ihrer heutigen Form.